agenda 4711 – das ganze leben wie urlaub von ANDRÉ PARIS
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Die Zeiten werden härter. Und kälter. Der eisige Atem der Agenda 2010 wird spürbar. Dabei heißt „Agenda“ eigentlich Notizbuch oder Merkzettel. Nichts anderes also als eine Art Einkaufszettel soll dafür verantwortlich sein, dass ehemals gutmütige Menschen einander Türen ins Gesicht schlagen, Rollstuhlfahrern die Luft aus den Reifen lassen oder dem Nachbarn die Schubkarre stehlen. Für ungeschickt könnte man denjenigen halten, der einem Regierungsprogramm den Namen „Einkaufszettel 2010“ gibt. Zumal es nicht ums Kaufen, sondern ums Sparen und Wegnehmen geht. Zwar wären die Titel „Arbeitslosenhetze 2010“ oder „Wer nichts hat, ist selber schuld 2010“ semantisch richtiger, könnten jedoch Amokläufe in entsprechenden Behörden provozieren. Bliebe noch die Möglichkeit einer veränderten Zahlenkombination: „Stützenstop 007“ oder „Armut 4711“ wirken verhältnismäßig sympathisch. Hätten die Namensgeber der „Agenda 2010“ auf das alberne Spiel mit Euphemismen plus Jahreszahl verzichtet, hätten sich bessere Möglichkeiten offenbart, die Sparpläne den Betroffenen nahe zu bringen. Zum Beispiel durch Aufkleber und Anstecker mit pfiffigen Sprüchen, die die möglichen Vorteile der durch den geplanten Sozialabbau manifestierten Armut betonen: Aussagen wie „arm, aber lustig!“, „obdachlos, aber oho!“ oder „endlich habe ich wieder Zeit, die Kinder zu schlagen“ wirken ermutigend bei der Entdeckung alternativer Existenzformen.

Überhaupt braucht diese Bundesregierung ein Armut-ist-geil-Ministerium, das die Vorteile der Verelendung traditionell mittelloser Bevölkerungsteile dokumentiert und betont. Da die Zielgruppe durch Fernsehspots bald nicht mehr erreichbar sein wird, bieten sich bundesweite Plakataktionen an, mit Fotos von Obdachlosen und Aussagen wie: „Schon früher machten wir gerne Campingurlaub, heute campen wir das ganze Jahr! Agenda 2010 – das ganze Leben wie Urlaub!“. Oder: „Früher verplemperte ich viel Zeit auf dem Sozialamt, hier auf dem Straßenstrich ist Schröders Versprechen von ,menschlicher Nähe‘ endlich wahr geworden! Agenda 2010 – Menschen kommen sich näher!“

Organverkauf statt Sozialhilfe?! Vieles von dem, was heute in der Bundesrepublik diskutiert und als Gesetz verabschiedet wird, ist vor Jahren in Politsatiren aufgetaucht. Kein Chefideologe der DDR war fantasievoll genug, um sich das erreichte Ausmaß der hiesigen Chancenungleichheit, allein im Bereich Bildung und Gesundheit, vorzustellen: Studiengebühren, Niedriglöhne, weitere Sozialkürzungen, gebührenpflichtige Arztbesuche.

Die extremen Unterschiede im Einkommen, beim Eigentum und in der Lebenserwartung haben eine Separation in der Bevölkerung bewirkt. Wer in diesem Land arm geboren ist, der wird es wahrscheinlich bleiben. Verglichen mit der Gegenwart wirken die damals kritisch gemeinten Anti-BRD-Beiträge des Zonenpropagandisten Karl-Eduard von Schnitzler vom „Schwarzen Kanal“ wie ungewollte Werbeclips über eine ehemals heile Welt.