Das Ende muss warten

Helmut Kraussers Roman „UC“ handelt von einem zynischen Stardirigenten, der den Kontrollverlust sucht, und von der Sehnsucht eines Autors, in Germanistikseminaren gelesen und gedeutet zu werden

von SUSANNE MESSMER

Es gibt eine Sache, die Helmut Krausser kann wie keiner, und es gibt etwas, das ihm nie gelingt. Das, was er kann, ist die Beschreibung einer Figur, wie sie ekelhafter nicht sein könnte, den Leser aber umso mehr in den Bann zieht: Er schreibt über Männer, die mit ihrem Autor altern, über zynische Rebellen ohne Ideale, die sich nicht einlassen, aber auch nicht aussteigen, nicht geltungsbedürftig sind, aber genusssüchtig. Diese Männer sind der Grund, warum man Helmut Krausser lesen sollte. Diese Männer kann nur ein Helmut Krausser beschreiben, der in den Achtzigern als Nachtwächter, Opernkomparse, Zeitungswerber, Popsänger, Rundfunksprecher und Journalist gearbeitet hat und sogar zu Recherchezwecken eine Zeit lang auf der Straße lebte.

Ein Grund, warum man große Teile jedes zweiten Buchs von Helmut Krausser überblättern kann, ist dagegen seine manierierte Bildungshuberei, seine Sehnsucht, in Germanistikseminaren als superpostmoderner Autor gelesen zu werden. Sein oft formuliertes Vorhaben „Größe in die Zeit hineinzutragen“, kann nur ein angestrengter Möchtegern-Großbürger wie Helmut Krausser ernst meinen, der, wie er es in seinem Tagebuch beschreibt, römische Münzen sammelt, antike Dichtung überträgt, täglich Schach spielt und Opern von Puccini analysiert.

Öde Exkurse, die sich von den Figuren lösen und darum nicht für sich interessieren können, bestimmen auch „UC“, den neuen Roman Helmut Kraussers. Der Held, Arndt Hermannstein, ist ein mitreißend abstoßend beschriebener Stardirigent, ein gelangweilter Karrierist aus Konvention. Er treibt sich in Pornokinos herum und posiert für die Kameras mit zahnlosen Stripperinnen, um die Presse zu schockieren. Für nichts kann dieser dekadente, distanzierte Connaisseur Leidenschaft entwickeln, zieht aber daraus auch keine Konsequenzen. Arndt Hermannstein ist privilegiert, taugt aber, wie er selbst bemerkt, nicht zur tragischen Figur, weshalb er den drohenden Kontrollverlust willkommen heißt. Eines Tages erfährt Hermannstein durch einen Anruf, dass er verdächtigt wird, vor zwanzig Jahren eine Schulfreundin ermordet zu haben, deren Leiche erst jetzt gefunden wurde. Er kann sich nicht erinnern, dass es so war, ist sich aber nicht sicher. Man will also wissen, wie es weitergeht mit Hermannstein, und dabei bliebe es auch, wenn Krausser seinen Figuren die Treue hielte, seinem Thriller, in dem immer mehr Morde geschehen, der Geschichte eines Absturzes, die viele Helmut Kraussers Bücher trägt, von „Fette Welt“ (1992) bis hin zu „Der große Bagarozy“ (1998).

Doch dann führt Krausser Sam Kurthes ein, der zunächst als exzentrischer Esoteriker und Gegenentwurf zum desillusionierten Hermannstein gut funktioniert, dann aber nur noch als Sprachrohr für die erwünschten Mehrfachkodierungen taugt, wie sie Krausser in vielen seiner weniger temperamentvollen Bücher verhäkelt. Hermannstein ist nicht nur einfach schizophren, der Leser soll annehmen, er befände sich in einem Ultrachronos, einem Geisteszustand, von dem Komapatienten berichten würden, dass sich das ganze Leben noch einmal vor dem inneren Auge abspule. Hermannstein hat nicht einfach einen Teil von sich abgespalten, weshalb er in komischen Paralleluniversen Menschen trifft, die schon tot sind, sondern man soll glauben, dass die Zeit ein Gleichzeitig ist, in dem „alles jemals Erwogene faktisch“ wird, wie Kurthes einmal schwadroniert. Durch komplizierte Vermischung der Erzählstimmen wird man angewiesen zu grübeln: Sind Hermannstein und Kurthes ein und dieselbe Person? Ist Hermannstein vielleicht schon tot?

Immer weniger geht es Krausser um seine Figuren, immer mehr um verdrehte zeitphilosophische Überlegungen, es ist von „Lichtzeit“ die Rede und von „N-Dimensionalität“, und man bekommt langsam Lust, die Enträtselung der schulmeisterlich eingestreuten Motive den Literaturwissenschaftlern zu überlassen, die die Auseinandersetzung Kraussers mit der romantischen Ironie lustvoll aufdröseln werden, mit dem Widerstreit von Schein und Sein im Doppelgänger-, Schatten- und Spiegelmotiv bei Adalbert von Chamisso, Hans Christian Andersen und E. T. A. Hoffmann, bei Robert Louis Stevenson und George Orwell und so weiter und so fort.

Am Ende lässt Helmut Krausser seinen Helden noch einmal einen Satz sagen, der klar macht, was aus diesem Roman geworden wäre, wäre er bei seinen Figuren geblieben, hätte er ihnen ein Eigenleben gestattet. Der gescheiterte Arndt Hermannstein erkennt, dass er „ein nostalgisches Element der Unterhaltungsindustrie“ war, dass er hätte komponieren sollen, es aber bleiben ließ, weil ihm der Kampf dafür zu obszön gewesen wäre. Hätte sich Helmut Krausser dies in den Arbeitstitel seines Romans geschrieben und hätte er den ganzen oberschlauen Schnickschnack weggelassen, vielleicht wäre aus seinem Roman dann mehr geworden.

Helmut Krausser: „UC“. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003, 320 S., 22,90 €