Es gibt viel zu tun: Fangt schon mal an

AUS PORT-AU-PRINCE HANS-ULRICH DILLMANN

Geduld gilt derzeit in Haiti als ein Zauberwort. „Patience“, bittet die vornehm gekleidete Dame im Supermarkt, während sie mit unendlicher Langmut ihren Einkaufswagen immer näher an die Kasse schiebt. Doch Madame bezieht sich nicht auf die Langsamkeit, mit der sie sich der Kasse nähert. Sie spricht von Politik, von der Situation und der Zukunft Haitis. „Es kann nur noch besser werden“, sagt die Mittvierzigerin mit dem feinen Goldkettchen um den Hals. „Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden.“

Jean-Bertrand Aristide hat die Geduld seiner Landsleute nicht genutzt. „Er hatte seine Chance – zehn Jahre lang“, erklärt die Frau im Supermarkt. Jetzt schenkt sie ihr Vertrauen jemand anderem. Bis im Juni die UN-Soldaten kommen, regiert übergangsweise eine multinationale Truppe unter US-amerikanischer Führung den Karibikstaat.

Vor dem Supermarkt auf dem Platz St. Pierre in Pétionville stoppt ein Militärjeep. Ein französischer Soldat im tarnfarbenen Kampfanzug springt vom Beifahrersitz und eilt zum Kauf einer Cola in den Laden. Hier in den kühleren Anhöhen oberhalb von Port-au-Prince, eine knappe halbe Stunde Fahrweg von der Hauptstadt entfernt, leben die Bessergestellten und Reichen des Landes. „Sie haben uns von Aristide befreit“, sagt die Frau mit Blick auf den Soldaten. „Jetzt müssen wir uns Zeit nehmen, das Land zu ordnen und zu stabilisieren. Wir brauchen Sicherheit.“

Doch davon kann der Inhaber des Lebensmittelgeschäfts nur träumen. Anfang April standen plötzlich acht bewaffnete Männer in seinem Laden und beraubten ihn „in aller Seelenruhe“. Sie stahlen die Tageseinnahmen, den Dollarvorrat und aus den Regalen die teuren Importwaren.

„Schreib bloß nicht meinen Namen“, bittet er, bevor er Geschichten aus dem Freundes- und Bekanntenkreis erzählt. Von bewaffnetem Einbruch in ein Privathaus, von Blitzentführung auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums, die ein paar Dollar Lösegeld brachte, von aufgebrochenen Appartements und von Straßenraub. „Wir können nur hoffen, dass sich die Lage stabilisiert und es besser wird“, sagt er.

Seit dem von der US-Diplomatie forcierten Abgang des damaligen Staatspräsidenten Jean-Bertrand Aristide ist die Situation in Haiti angespannt. Kaum dass in den Anhöhen von Pétionville gegen halb sieben Uhr die Abenddämmerung beginnt, schließt der Kaufmann sein Geschäft – aus Sicherheitsgründen. Während der Nacht passt ein Wachposten mit einer Pumpgun auf den Laden auf. Es gibt kaum Straßenbeleuchtung, die Diebe abschrecken könnte: Seit Ende Februar lassen sich die Stunden, an denen es Strom gibt, an den Fingern einer Hand abzählen. Die Stromgeneratoren in den Privathäusern jener, die sich solchen Luxus leisten können, laufen fast rund um die Uhr.

Stunde der Technokraten

Auch auf dem Gelände des ebenfalls in Pétionville gelegenen Wohnhauses von Gérard Pierre-Charles, der grauen Eminenz von Haitis ehemaliger Opposition, sorgt der dieselbetriebene Energielieferant für eine gleich bleibende, sonore Geräuschkulisse. Der 69-Jährige ist Soziologe. Er war Mitbegründer der Convergence Démocratique und lebte während der Duvalier-Diktatur im Exil. Heute sitzt er auf seiner von Gittern geschützten Veranda und spricht über die Kunst, sich zu gedulden. „Wir werden fünf, vielleicht sogar zehn Jahre brauchen, um die Grundkonditionen menschlichen Lebens in Haiti zu schaffen.“ Die Menschen müssten ernährt und erzogen werden, man brauche neue Arbeitsplätze.

„Es muss endlich Schluss damit sein, dass Haiti das ärmste Land der westlichen Hemisphäre ist.“ Und weil dafür ganz konkrete Probleme gelöst werden müssen, sei jetzt die Stunde der Technokraten und nicht die der politischen Parteien.

Früher war er einmal Marxist – und Weggefährte von Aristide. Bis er sich mit beiden überworfen hatte. Deswegen musste er sich vor dem Sturz des haitianischen Staatschefs immer wieder verstecken. Weil Aristide-Anhänger, Chimère genannt, Mordkomplotte gegen ihn geschmiedet hatten. Wenigstens das ist überstanden.

Dass bewaffnete Banden das Ende herbeigeführt haben, findet Pierre-Charles genauso uninteressant wie die Tatsache, dass ausländische Streitkräfte derzeit in Haiti für Ansätze von „Ordnung“ sorgen müssen. Er hat auch kein Problem damit, dass die in der Demokratischen Plattform zusammengeschlossenen Convergence Démocratique und die Gruppe der 184, die in den letzten Monaten den öffentlichen Protest getragen haben, nicht in die Verwaltung und Regierung des Landes einbezogen sind. „Es geht heute darum, einen Konsens mit allen gesellschaftlichen Gruppierungen zu finden. Die Übergangsregierung unter Gérard Latortue macht eine vernünftige Arbeit. Wir könnten diese Arbeit nicht leisten, wir haben im Zentrum der Auseinandersetzung gestanden.“

Am nächsten Morgen in Port-au-Prince beim Frühstück mit dem Sozialdemokraten Micha Gaillard hört man Ähnliches. „Wir sind nicht in der Regierung, aber auch nicht in der Opposition“, beschreibt er die politische Gemengelage, während er ein Omelette zerlegt. „Es war auch unsere Entscheidung, keine Partei und keinen Protagonisten der letzten Jahre in die Übergangsregierung zu berufen“, sagt Gaillard. Der 49-jährige Physiologe ist einer der führenden Sozialdemokraten Haitis und Sprecher der Demokratischen Plattform. „Ohne die Integration aller fehlt uns die Stabilität. Deshalb mussten wir auch die Rebellen ins Boot holen.“

Regieren mit Rebellen?

Fragen nach der Vergangenheit einiger Rebellenführer und deren Verantwortung für Morde und Menschenrechtsverletzungen beantwortet Gaillard mit einer simplen Gegenfrage: „Was wollen Sie? Wir waren dabei, zu ertrinken. Wenn dann ein Räuber vorbeikommt und mich rettet, wollen Sie den vorher nach seinem Vorstrafenregister fragen?“

Der Mann mit dem Fünf-Tage-Bart, der von 1991 bis 1994 Sprecher von Jean-Bertrand Aristide war, sieht derzeit keine Chance ohne die Rebellen um Guy Philippe auszukommen. Rache, Revanche und Richten seien jetzt nicht die vordringlichsten Aufgaben. „Wir müssen uns wieder finden und die Wahrheit wissen.“ Einen Teil dieser „Spurensuchen“ will er durch eine Wahrheitskommission bewältigen lassen, die alle Verbrechen der letzten Jahre untersuchen soll. „Danach wird es vielleicht eine Amnestie geben“ – auch für Leute wie den Rebellenführer Louis-Jodel Chamblain, der wegen Massakern an Aristide-Anhängern in Abwesenheit zu zweimal „lebenslänglich“ verurteilt worden war und sich Ende April der haitianischen Justiz gestellt hat. „Auch Aristide muss zurückkehren können“, fordert Gaillard.

Fragt sich nur, wohin zurück. Die noch von seinen Anhängern gesprühte Parole „Aristide für fünf Jahre“ auf den Mauern der Stadt ist inzwischen zweckentfremdet worden. Aus den fünf sind fünfzig Jahre geworden und der ursprünglich blauen Sprühschrift ist in Schwarz „ins Gefängnis“ hinzugefügt worden.

Hoch über Port-au-Prince und über der weißen Kuppel des Präsidentenpalais, das der 36 Jahre alte Expolizist mit seinem Mannen vor ein paar Wochen stürmen wollte, um Aristide zu vertreiben, sitzt der Rebell Guy Philippe im Hotel „Ibo Lele“. Den Kampfanzug hat der jungenhaft wirkende Mann inzwischen gegen eine blütenweiße kubanische Guayabera-Hemdjacke eingetauscht. Die Ausbeulung, die die Pistole an seinem Hüftholster verursacht, ist nicht zu übersehen.

In diskreter Entfernung stehen ebenfalls zivil gekleidete Bodyguards mit Schnellfeuergewehren. Auch Philippe will keine Verantwortung. Er möchte Sprachrohr für die Sprachlosen werden. Nein, ein Staatsamt strebe er nicht an, er wolle auch nicht Teil eines reformierten Polizeiapparates oder Mitglied der künftigen haitianischen Armee sein. „Wir sind nicht hier, um das Unmögliche zu fordern. Es sind erst zwei Monate vergangen. Man muss erst einmal abwarten“, sagt Philippe.

Wiederaufbau in Gonaïves

Doch während die Bessersituierten die Verantwortung für die Zukunft ihres Staates geduldig in internationale Hände legen, hat bei der ärmeren Bevölkerung längst der Wiederaufbau begonnen. In Gonaïves, der viertgrößten Stadt des Landes und einem der Zentren der Auseinandersetzungen, sind kaum Spuren von den Ereignissen im Frühjahr geblieben. Von den Rebellen um den Aufständigen Butteur Métayer ist nichts zu sehen, die Zugangsstraße zur Hafenstadt neu geteert, die Barrikaden, die die Stadt einst abriegelten, sind weggeräumt. Vor den Trümmern des Polizeigefängnisses, das die Rebellen als eine ihrer ersten Aktionen niederbrannten, steht ein halbes Dutzend Lastkarren. Geduldig warten die Männer in zerlumpten Kleidern, bis sie sich an den Steinresten bedienen können, die sie dann hastig auf Karren laden und abtransportieren. Mit dem Alten wird Neues gebaut, Häuser beispielsweise. „Wir haben lange genug gewartet“, erklärt ein Mann. Jetzt hilft man sich selbst.

Für die Geduld der Politiker haben die Ärmsten keine Zeit. So wie Elta Fortune beispielsweise. Die 32-Jährige muss sich um das tägliche Überleben ihrer sechs Kinder kümmern. Sie lebt in einer windschiefen Hütte oberhalb des kleinen Marktfleckens Montrouis in den Bergen, knapp achthundert Meter hoch, fast eine Tagesreise zu Fuß bis zur nächsten Stadt. Von der nächsten größeren Ortschaft, Ivoire, ist sie zwei Wegstunden entfernt. In Fortunes unmittelbarer Umgebung gibt es keinen Brunnen.

Zum nächsten Wasserloch muss sie mindestens 40 Minuten laufen und dort findet sich nur Wasser in den frühen Morgenstunden. Ohne die geringe finanzielle Unterstützung ihres Bruders, der vor Jahren illegal in die USA ausgewandert ist, könnte Elta Fortune ihre Kinder weder kleiden noch ansatzweise ausreichend ernähren. Ihr Mann ist Tagelöhner, der ab und an mal zur Erntezeit auf den ausgemergelten Feldern Arbeit findet.

Die stürmischen Zeiten in den 90er-Jahren sind hier oben an den Menschen ebenso vorbeigegangen wie die Revolte der letzten Monate gegen Aristide. Für Elta Fortune und ihre bäuerlichen Nachbarn sind die Versprechungen des einstigen Armenpriesters, ihnen „Frieden im Magen“ zu bescheren, niemals Wirklichkeit geworden – auch wenn sie jedes Mal geduldig abgewartet haben.

Und Elta Fortune gibt die Hoffnung nicht auf. „Vielleicht“ sagt die Frau in der haitianischen Landessprache Kreyòl, „wird sich jetzt nach Aristides Abgang etwas ändern.“ – „Gen Patience.“ Geduld haben. Auch Elta Fortuna kennt das neue haitianische Zauberwort.