Fakten gegen Fiktionen

Das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge: ein Streit um Erzählungen, Verantwortung und Ungerechtigkeiten

VON MONIKA JUNG-MOUNIB

Ariel Scharon kann zufrieden sein. Bei seinem Besuch in Washington vor einem Monat hat der israelische Premierminister einen Triumph errungen, der in den Streitereien über die Siedlungspolitik fast untergegangen ist: Die Amerikaner haben von einem Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge nach Israel abgesehen. George W. Bush sagte, eine „gerechte Lösung“ könne nur in Verbindung mit einem palästinensischen Staat erreicht werden. Das sei eine bedeutende Leistung Scharons, schreibt Zeev Schiff, renommierter Verteidigungsexperte der israelischen Zeitung Ha’aretz. „Eine Lösung für die palästinensischen Flüchtlinge wird es, wie Israel lange verlangt hat, außerhalb der Grenzen des jüdischen Staates geben.“

Dass diese Entscheidung Bushs, eine Lösung des Flüchtlingsproblems einseitig und eigenmächtig zu verordnen, beide Seiten einem endgültigen Friedensabkommen näher bringt, ist stark zu bezweifeln. Der Vorsitzende der palästinensischen Autonomiebehörde, Jassir Arafat, sagte nach dem Treffen von Ministerpräsident Scharon und Präsident Bush, die Flüchtlinge würden ihr Rückkehrrecht niemals aufgeben.

Kaum ein anderes Thema berührt die Gefühle der Palästinenser so tief wie das Rückkehrrecht. Etwa 4,1 Millionen palästinensische Flüchtlinge sind heute bei der UNRWA (United Nations Relief and Works Agency) registriert. Von ihnen leben über eine Million in Flüchtlingslagern in Jordanien, Libanon und Syrien. Das Rückkehrrecht steht stellvertretend für alle den Flüchtlingen nicht zugestandenen politischen und nationalen Rechte. Es ist für viele Palästinenser zu einer existenziellen Frage geworden, da es die im israelisch-arabischen Krieg 1948 erlittene Enteignung und historische Ungerechtigkeit verkörpert. Seit damals etwa 700.000 Palästinenser von israelischen Streitkräften vertrieben wurden, haben Generationen von Palästinensern den Glauben an das Rückkehrrecht, das in der Resolution 194 der UNO-Generalversammlung vom Dezember 1948 verbrieft ist, gepflegt.

Für die Mehrheit der Palästinenser ist das Rückkehrrecht, wie Abu Sitta es formuliert: „heilig, rechtmäßig, möglich“. Der palästinensische Forscher ist einer von vielen, die für eine vorbehaltlose Verwirklichung des Rechts eintreten. Die Forderungen der Palästinenser umfassen zwei Punkte: Israel soll entweder das praktische oder das moralische Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge anerkennen sowie zugeben, für das Flüchtlingsproblem verantwortlich zu sein.

Doch Israel hat dieses Recht nie anerkannt, weil Entschließungen der Generalversammlung im Gegensatz zu UNO-Sicherheitsrats-Resolutionen als nicht bindend gelten. Für die meisten Israelis ist die Anerkennung des palästinensischen Rückkehrrechts – egal ob es sich um ein praktisches oder ein moralisches handelt – ausgeschlossen. Sie sehen das Rückkehrrecht als eine existenzielle Sicherheitsbedrohung an, weil eine arabische Mehrheit den jüdischen Charakter des israelischen Staates gefährden würde. Indem die Palästinenser auf die Rückkehr von vier Millionen Flüchtlingen nach Israel drängten, wird behauptet, machten sie die Juden zur Minderheit im Staat. „Eine Beschönigung der Zerstörung Israels“ nannte der ehemalige Ministerpräsident Ehud Barak das Rückkehrrecht nach dem Scheitern von Camp David im Jahr 2000.

Ähnlich erklärt Zeev Schiff die israelische Position: „Israel ist ein jüdischer Staat. Punkt. Ich will nicht, dass aus Israel ein Libanon wird.“ Ohnehin fühlen sich die Israelis durch die demografische Entwicklung bedroht. Von den rund 5,8 Millionen Einwohnern sind knapp achtzig Prozent Juden, gegenüber fast fünfzehn Prozent Muslimen und drei Prozent arabischen Christen. Experten rechnen damit, dass die Palästinenser in den von Israel besetzten Gebieten in etwa zwanzig Jahren die Bevölkerungsmehrheit darstellen werden.

Israel bestreitet, das Flüchtlingsproblem verschuldet zu haben. Laut offizieller israelischer Version von 1948 haben die arabischen Staaten den Krieg begonnen. Sie hätten den Palästinensern befohlen, ihre Häuser zu verlassen, und hätten somit selbst das Schicksal der Flüchtlinge bestimmt. „Eine große Mehrheit der Israelis, sicher mehr als neunzig Prozent, wird nicht akzeptieren, die Verantwortung für die Schaffung des palästinensischen Flüchtlingsproblems zu übernehmen“, sagt Zeef Schiff. „Der Konflikt wurde von den Arabern begonnen. Das war kein Angriff, es war eine Entscheidung der UNO, und dann gab es Krieg. Viele Israelis denken, dass die Araber die echte Verantwortung für das tragen, was passiert ist“, so Schiff. „Wenn wir jetzt diese Verantwortung akzeptieren würden, gäben wir zu, dass Israel durch eine Sünde zur Welt gekommen ist.“ Dadurch wäre die Existenz des israelischen Staates gefährdet, weil die Palästinenser das als ein Eingeständnis seiner Illegitimität auffassten.

In den vergangenen fünf Jahren haben sich in den Clinton-Vorschlägen vom Dezember 2000, den Taba-Verhandlungen, dem Ayalon-Nusseibeh-Vorschlag und dem Genfer Abkommen einige Bausteine für einen pragmatischen Kompromiss herauskristallisiert: die Repatriierung der Flüchtlinge in einen palästinensischen Staat, Niederlassungen in arabischen Ländern und Drittländern sowie die Rückkehr einer symbolischen Anzahl von Flüchtlingen nach Israel und eine Kompensation für die erlittene Härte und das verlorene Eigentum. Den Initiativen ist eines gemeinsam: Sie alle gehen in Richtung Verzicht auf das Rückkehrrecht.

Das Genfer Abkommen schlägt einen Kompromiss vor, bei dem die Israelis einigen Flüchtlingen ermöglichen, sich in Israel anzusiedeln, ohne sie als „Rückkehrer“ zu bezeichnen. Die Ayalon-Nusseibeh-Initiative sieht den konkreten Verzicht auf das Recht vor. Sie schlägt Israel als Staat für die Juden und Palästina als Staat für die Palästinenser vor. Umfragen des Palestine Center for Policy and Survey Research (PSR) haben jedoch gezeigt, dass die palästinensische Bevölkerung den Ayalon-Nusseibeh-Vorschlag und das Genfer Abkommen vor allem wegen des Verzichts auf das Rückkehrrecht ablehnt. Ein Verzicht auch auf ein moralisches Rückkehrrecht ist für die Palästinenser nur möglich, wenn die Israelis die Verantwortung für das Flüchtlingsproblem übernehmen.

Hintergrund sind die gegensätzlichen Interpretationen des Kriegsausbruchs von 1948, auf denen die Mehrheit der Palästinenser und die der Israelis gleichermaßen entschlossen beharren. In den daraus entstandenen Erzählungen bezeichnen die Palästinenser die Ereignisse als Nakba – die Katastrophe – und die Israelis als Unabhängigkeitskrieg.

Unklar ist heute, ob den Vertreibungen ein koordinierter Plan zugrunde gelegen hat oder nicht. Feuer ins Öl goss Anfang Januar der zur Avantgarde der „neuen Historiker“ zählende Benny Morris in einem Interview mit Ha’aretz. Laut neuen veröffentlichten Archivberichten der israelischen Streitkräfte haben David Ben Gurion und andere zionistische Führer schon 1947 gefolgert, dass ein jüdischer Staat nicht „ohne die Entwurzelung von 700.000 Palästinensern“ in dem von der UNO vorgesehenen Gebiet gebildet werden könne. „In den Monaten April–Mai 1948 erhielten Einheiten der Haganah operationelle Anweisungen, die explizit besagten, sie sollten die Dörfler entwurzeln, sie vertreiben und die Dörfer zerstören“, so Morris. Dies habe zu „weit mehr israelischen Akten von Massakern geführt, als ich vorher angenommen hatte“. Es sei eine geplante Operation gewesen, wie Morris wiederholt bestätigt, jene Teile Palästinas zu „säubern“ (das in den Dokumenten verwendete Wort), die die Juden als notwendig für die Bildung des jüdischen Staates betrachteten. Sollte Morris’ Bericht über die freigegebenen Dokumente bestätigt werden, wäre die palästinensische „Erzählung“ der Nakba wahr und nicht die israelische.

Es erstaunt, dass viele Israelis trotz jüngerer Erkenntnisse von Historikern – die belegen, dass keine palästinensische Massenflucht stattgefunden hat, es dagegen tatsächlich zu Vertreibungen während des Kriegs gekommen ist –, nicht bereit zu sein scheinen, ihr Geschichtsbild zu revidieren. „Die UNO bildete einen jüdischen und einen arabischen Staat. Die Juden stimmten dem zu, die Araber nicht. Die Araber versuchten, den jüdischen Staat zu zerstören. So ist die Nakba entstanden“, sagt Joseph Alpher, ehemaliger Direktor des Jaffee Center für strategische Studien der Universität Tel Aviv und Mitbegründes Online-Dienstes www.bitterlemons.org. Die Palästinenser hingegen streiten ab, für ihr Elend selbst verantwortlich zu sein. Auch wenn arabische Offiziere ganze Gemeinden zur Flucht ermutigt haben sollten, halten sie dem entgegen, dass Israel die Rückkehr der Flüchtlinge nach dem Ende der Kämpfe 1948 verboten hat.

Israelische und palästinensische Einschätzungen über einen Kompromiss gehen heute weit auseinander. Alpher erklärt, dass die israelische Gesellschaft seit dem Kollaps des Friedensprozesses und dem Ausbruch der zweiten Intifada anders denke als vor vier Jahren. Die israelische Position habe sich verhärtet, weil die Palästinenser auf Israels alleiniger Verantwortung beharrten. Es werde befürchtet, dass zukünftige Generationen militanter Palästinenser eine moralische Akzeptanz der Resolution 194 respektive des Rückkehrrechts so betrachten würden, dass die Forderung nach mehr Rückkehrern gerechtfertigt sei. Deshalb müsse Israel darauf bestehen, dass die Resolution 194 im Sinne des UNO-Teilungsbeschlusses 181 von 1947 verstanden wird, der einen jüdischen und einen palästinensischen Staat in Palästina vorsah.

„Eine Rückkehr ist nur in einen arabischen Staat möglich“, so Alpher. „194 kann nur in diesem Sinne ausgelegt werden. Hier prallen die Erzählungen heute stärker aufeinander als früher.“ Er wie auch Schiff gehören zu jenen Israelis, die zwar dazu bereit wären, die Verantwortung für die Ereignisse von 1948 zu einem gewissen Grad zu übernehmen. Aber ein moralisches Rückkehrrecht zuzulassen, ohne die praktische Rückkehr von Flüchtlingen anzuerkennen, sei ausgeschlossen. „Es wird kein Abkommen geben, in dem Israel das Prinzip des Rückkehrrechts akzeptieren wird. Wir sind nicht verpflichtet, das Rückkehrrecht so zu akzeptieren, wie die Palästinenser es verstehen.“

Mehr Fortschritte glaubt dagegen der prominente palästinensische Politologe und Direktor des PSR, Khalil Schikaki, ausmachen zu können. Ein Kompromiss hänge eindeutig von einer geänderten israelischen „Erzählung“ und von der Anerkennung eines moralischen Rückkehrrechts durch Israel ab. „Es ist keine Frage, dass das Rückkehrrecht der heikelste Punkt zwischen Palästinensern und Israelis darstellt. Sollte ein Abkommen das Recht überhaupt nicht erwähnen, wird es zweifellos als illegitim angesehen.“

Ein Abkommen mit seiner expliziten Erwähnung dagegen würden die meisten Palästinenser unterstützen. Werde es indes nur implizit genannt, wie im Genfer Abkommen, werde es abgelehnt. Seinen Optimismus gründet Schikaki auf eine Umfrage vom Juli 2003, laut der neunzig Prozent der Flüchtlinge auf eine Rückkehr nach Israel verzichten würden, wenn das Rückkehrrecht einmal anerkannt wäre.

„Ihr Interesse liegt nicht in der tatsächlichen Rückkehr in das Gebiet“, sagt Schikaki. Seine Zuversicht zieht er auch aus einer Umfrage des Jaffee Center der Universität Tel Aviv. „Würde nur eine kleine Minderheit von Flüchtlingen nach Israel zurückkehren, würden 25 bis 28 Prozent der israelischen Befragten das Rückkehrrecht anerkennen“, sagt Schikaki. Das sei eine große Veränderung, denn während der vergangenen zwanzig Jahre sei die öffentliche Meinung in Israel praktisch gleich geblieben. „Wenn die Israelis einmal überzeugt sind, dass nicht hunderttausende von Flüchtlingen zurückkehren werden, ist die Frage der Verantwortung und was 1948 passiert ist, nicht mehr relevant. Die alte israelische Erzählung wird beerdigt werden“, so Schikaki.

Der Politologe glaubt nicht, dass das Treffen zwischen Scharon und Bush sich auf ein endgültiges Abkommen auswirken könnte. „Der Präsident hat nichts Neues gesagt. Neu ist nur die Einseitigkeit.“ Schikaki bleibt optimistisch: „Bushs Aussage mag die Israelis nun ermutigen, zu denken, dass es keine Rückkehr nach Israel gibt.“ Das wäre die Bedingung für die Israelis, das moralische Rückkehrrecht anzuerkennen. „Für die Palästinenser ist das entscheidend“, sagt Shikaki, „denn sie werden weder am Prinzip des Rückkehrrechts noch an ihrer Erzählung etwas ändern.“

MONIKA JUNG-MOUNIB lebt als freie Journalistin in Männedorf in der Schweiz