Die Sehnsucht nach dem Ritual

Fast die Hälfte aller Jugendlichen in den neuen Bundesländern nimmt an Jugendfeiern teil. Vom sozialistischen Initiationsritual der DDR ist jedoch nicht mehr viel geblieben. Heute verlässt man die Kindheit mit Spaß und Geschenken, um in der DDR-Nostalgie der Erwachsenen anzukommen

VON EDITH KRESTA

Der Berliner Friedrichstadtpalast ist an diesem Samstagmorgen in Familienhand. Kleine Gruppen – Mama, Papa, Oma, Opa, Tante, Onkel, alle fein gemacht – warten im Foyer des Varietés, Kameras und Camcorder griffbereit. Gefeiert wird „das Ende der Kindheit“. Jungen und Mädchen um die 14 Jahre alt, haben sich herausgeputzt. Manche Mädchen tragen lange Kleider und hochhackige Schuhe und haben sich geschminkt. Die Jungen wirken dagegen klein in ihren dunklen Anzügen. Staksig und ungelenk, aber schön gekämmt und gegelt. Sieben Tickets ersteht eine Familie im Schnitt für eine Jugendfeier.

„Kinder brauchen Rituale“ so lautet der Titel eines Erziehungsratgebers. „Jugendliche brauchen Rituale“, sagt auch Kira Maier aus Oranienburg, die vor kurzem mit ihrer Tochter den Übergang ins Erwachsenenalter ganz privat im Familienkreis gefeiert hat. So richtig konnte sie sich nicht auf die organisierten Feierlichkeiten einlassen, weder auf die vor Ort organisierte Jugendweihe noch auf die Feiern des Humanistischen Verbandes (HVD), wie beispielsweise die im Friedrichstadtpalast.

Die Feier dort gelte zwar als äußerst gelungen, aber die Vorbereitungskurse des Verbandes – wie Bastel-, Tanz-, Schmink- oder Computerkurs – seien zu „inhaltsleer“, so Kira Maier. Auf die Feier verzichten wollte sie aber auch nicht. Als Jugendliche ist sie selbst ins Erwachsenenalter geschickt worden – nach einer Fahrt ins Konzentrationslager Buchenwald und dem obligatorischen Schwur auf die DDR. „Ich bin froh, dass wir privat mit meiner Tochter gefeiert haben“, sagt sie. Es sei nicht nur um die Geschenke gegangen, die der Tochter gefallen hätten, sondern auch um „das Gefühl, wichtig und in der Familie aufgehoben zu sein. Einen sicheren Rahmen zu haben“.

Zuwendung für jeden einzelnen

Der große Saal im Friedrichstadtpalast hat sich gefüllt. 225 Jugendlichen treten mit einer gelben Rose in der Hand ein und nehmen in den vordersten Reihe Platz. Applaus. Jeden einzelnen erfasst im Laufe der Veranstaltung ein Lichtkegel, per Video wird er groß auf die Leinwand über der Bühne projiziert und namentlich vorgestellt. Für jeden einzelnen gibt es heute Zuwendung und großzügige Geschenke.

Die Chansonsängerin und Moderatorin Barbara Kellerbauer präsentiert und moderiert zusammen mit Dirk Zöllner, dem Rio Reiser der DDR. Trio Bravo spielt zur Geige Tina Tandlers.Dann wird die erste Reihe der Jugendlichen namentlich präsentiert. Die Genannten stehen auf, lächeln zaghaft in die Kamera.

Die Jungfeier ist keine Erfindung der DDR, auch wenn sie dort ab 1954 als Treuegelöbnis auf den Staat praktiziert wurde, davor war sie verboten. Wer allerdings dann nicht daran teilnahm, dessen lautere „sozialistische Persönlichkeit“ stand auf dem Prüfstand. Mit Nachteilen war zu rechnen.

Historisch geht die Jugendfeier auf eine Art „Mündigkeitsfeier“ der Aufklärungsbewegung Mitte des 18. Jahrhunderts zurück. Sie sollte die „Verstandesreife“ von Töchtern und Söhnen zum Ausdruck bringen. Ein aufgeklärtes Initiationsritual. In der Weimarer Republik war die Jugendfeier das weltliche Gegenstück zu Konfirmation und Firmung bei Teilen der Arbeiterbewegung. Aufbauend auf dieser Tradition, veranstaltete während der deutschen Teilung der Humanistische Verband, damals deutscher Freidenker-Verband, Jugendfeiern im Westen.

HipHop und ein bisschen Liebe

Heute sind die Humanisten sowohl im Osten Deutschlands als auch im Westen Anbieter der Feiern. 3.300 Jugendliche nehmen dieses Jahr alleine an den Jugendfeiern des Humanistischen Verbandes im Berliner Friedrichstadtpalast teil. Über 90 Prozent von ihnen stammen aus den Ostbezirken Berlins. Insgesamt sind in Berlin und Brandenburg 12.000 Jugendliche zu den Feierlichkeiten des Verbandes angemeldet. Während im Osten Deutschlands fast die Hälfte aller Jugendlichen an den Jugendfeierlichkeiten unterschiedlicher Veranstalter teilnimmt, wird im Westen konfessionell initiiert –mit Firmung oder Konfirmation.

Im Osten sind die Kirchen in einer Minderheitenposition. Innerhalb von zwei Generationen ist dort die Zahl der Christen von 94 Prozent auf 30 Prozent zurückgegangen. Demgegenüber gehören beispielsweise in Bayern 81 Prozent und in Nordrhein-Westfalen 72 Prozent einer der beiden großen christlichen Kirchen an. Ein drastischer Rückgang der Christen im Osten, den der Erfurter Theologie Professor Eberhard Tiefensee „als Supergau der Kirchen“ bezeichnete.

Im Friedrichstadtpalast spricht nun Barbara Kellerbauer zu den Jugendlichen. „Ich wünsche dir – und dir – und dir, dass ihr viel wagt und manchmal gewinnt, dass ihr Niederlagen wegzustecken lernt und nie aufgebt, wenn euch etwas wirklich wichtig ist.“ Die Worte folgen einem Pubertätssketch: Cooler, desinteressierter Computerjunge, verzweifelte, allein erziehende Mutter, Mädels, Musik, HipHop und ein bisschen Liebe.

„Die Liebe ist wie Masern, wir müssen sie alle durchmachen“, gibt Barbara Kellerbauer den Jugendlichen mit auf den Weg. Und damit das nicht gar so desillusionierend dasteht, zitiert sie auch Ricarda Huch: „Die Liebe ist das Einzige, das wächst, wenn wir es verschwenden.“ Besinnungspausen für die großen Fragen der Zukunft.

Und dann singt Barbara Kellerbauer das Lied, bei dem die meisten Eltern im Saal feuchte Augen bekommen. Ein DDR-Song mit Tradition. „Der war doch eben noch ein Kind“ von Gisela Steineckert. Eltern im Osten scheinen sich gerne an ihre eigene Jugendweihe zu erinnern. „Eine Feier ist eine Feier und Geschenke sind sowieso gut“, sagt Kira Maier. Geschenke schmeicheln. Sie bleiben auch bei Konfirmation und Firmung am nachhaltigsten in Erinnerung.

Spaßkultur? Unbedingt!

Eine Kampfsportgruppe turnt nun auf der Bühne, Dirk Zöllner singt von Momenten, die nicht immer leicht sind. Und der Sketch um die pubertierenden Computerkids nähert sich einem glücklichen Ende: allein erziehende Mutter und ignoranter Sohn haben dazugelernt und hören gemeinsam seinen selbst produzierten Musikclip. Applaus. Musik. Streetdance. „Ich möchte dir etwas sagen, du kannst es glauben, musst es aber nicht. Du kannst zuhören, musst es aber nicht“, zitiert Barbara Kellerbauer munter weiter. Eine indianische Weisheit: „Es ist dein freier Wille. Jeder Mensch soll frei entscheiden, ob er etwas will oder nicht. Aber für die Folgen muss jeder selber geradestehen. Vielleicht nützt sie euch.“ Schaden tut sie auf jeden Fall nicht.

Die Kirchen reagieren vergrätzt auf die Jugendfeiern. So versuchte der DDR-Bürgerrechtler und CDU-Abgeordnete Günter Nooke eine neue Art von Jugendweihe innerhalb der Kirchen zu schaffen. Man dürfe dieses Fest nicht „den dubiosen Vorfeldorganisationen der PDS überlassen“. Und ein Verein namens „Maiglocke“ will mit einer Art Jugendfeier christliche Werte vermitteln. Gerade einmal neun Jugendliche meldeten sich in diesem Frühjahr in Berlin zu dieser Anti-Jugendweihe an.

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Huber, schmollt über die Zusammenarbeit der Schulen im Osten mit Jugendweiheverbänden. Die Schulen seien „kein geeigneter Organisationsrahmen für eine weltanschauliche Veranstaltung“. Der Friedrichstadtpalast schon.

Zum Schluss der Feier kommen alle Mitwirkenden auf die Bühne, auch die gefeierten Jugendlichen. In einem großen Finale singen Darsteller und Jugendliche gemeinsam „We can leave the world behind“ und schwenken die gelben Rosen. Das hat Showformat. Wie im echten Varieté. Lang anhaltender Applaus. Spaßkultur? Unbedingt. Inhaltsleer? Wie Feiern und Rituale so sind. Symbolisch? Sehr. Die Jugendfeier ist zweifelsohne eine Reminiszenz an DDR-Sozialisation und die Suche nach Selbstvergewisserung in einem Ritual, das die Kirchen auch nicht besser füllen können.