der reiz der rolltreppe von JÜRGEN ROTH
:

Es war meines Wissens kein Geringerer als Peter Sloterdijk, der zirka Anfang der Neunzigerjahre die Rolltreppe – neben dem Formel-1-Fahren – zum Signum der späten Hochmoderne erkoren hat. Das endlose Hochtransportieren von Menschenmassen auf der einen Schachtseite, um sie auf der anderen Seite wieder runterzutransportieren: Dieses säkulare und gleichwohl eschatologisch mahnende dynamisch-zirkuläre Realsymbol der Nichtigkeit des Fortkommens in einer geschäftigen und scheinbar komfortablen, dadurch aber energetisch enthumanisierten Welt der bewegten Bewegungslosigkeit sollte wahrscheinlich den Fetischismus der Mobilität anklagen oder wenigstens in einem griffigen Bild bannen.

Sloterdijk jedenfalls erwies sich als Prophet, was die spätere Entwicklung unseres Leitmediums Kulturfernsehen anbelangt. Denis Schecks nicht mehr ganz neue monatliche Büchersendung „Druckfrisch“ in der ARD nämlich zeigt den alert-agilen Literaturagenten praktisch pausenlos Rolltreppen fahrend, um den lesenden Menschen, den Freunden des Buches, das ja eine eher stille, im Grunde steinalt-kontemplative Haltung verlangt, die aktuellsten Knüller der Branche atmosphärisch angereizt anzudienen.

„ ‚Druckfrisch‘ präsentiert sich im temporeichen Reportageformat“, lobt die Homepage der ARD das von Regisseur Andreas Ammer hochgepoppte Wackel- und Daddelding und offeriert simultan den dreißigsekündigen RealPlayer-Clip „Denis Scheck in Aktion“. Und während Scheck gerade noch Hans Magnus Enzensberger auf einem Flughafen, einem der zentralen „Nicht-Orte“ (Marc Augé) der Postmoderne, in Kamerakarussellfahrtenfragen verwickelt hat, stolziert er wenige Digitalaugenblicke später dem Augenschein nach über die ratternden Rolltreppen der Frankfurter (Buch-)Messe.

Meine Rolltreppe am letzten S-Bahn-Haltepunkt vor Frankfurt-Messe, die gemäß der Sloterdijk’schen Erkenntnis hier auf den Bahnsteig hinauf- und dort vom Bahnsteig hinunterführt, steht. Sie steht, so die Erfahrung der vergangenen vier Jahre, am Dienstag, gegen siebzehn Uhr. Am Donnerstag, morgens um elf, steht sie auch. Am nächsten Montagabend ist sie in der Regel außer Betrieb, am Samstagmorgen signalisiert ein rotes Licht Stillstand. Mittwochs läuft sie, donnerstags, zumal mittags, selten, Freitags „steht“ sie auf Stehen.

Der aktuell protokollierte Stand meiner Rolltreppe: Dienstag, 14.13 Uhr: Stillstand. Mittwoch, 19.32 Uhr: Sie steht. Freitag, 11.08 Uhr: Sie geht (aufwärts). Freitag, 13.14 Uhr: Sie steht (abwärts; vor mir geht nichts; die Menschen staunen und gehen nicht; nichts geht vorwärts auf meiner Rolltreppe). Samstag (es eilt), 15.33 Uhr: nichts (vier Schleicher, ja Steher vor mir; sie glauben der Rolltreppe nicht). Sonntag: wie immer. Montag: Stagnation hin, Stationsstau retour. Dienstag: keine Fahrt, keine Rolltreppe. Mittwoch: daheim geblieben. Dito Donnerstag. Freitag: Eintrag verweigert (Protokollprojekt abgebrochen).

Aber das ist nicht die Welt der Literatur, sondern bloß die wirkliche Welt.