Wörschtsche aus der Hand

Fünfzig Jahre Kleinmarkthalle: Von der „Gemieskerch“ zum Gourmettempel

VON KLAUS-PETER KLINGELSCHMITT

Un die Ratsherrn un die Richter. Un die Maler un die Dichter. Komponiste, Schornaliste. Apedheker un Drogiste. Un Student un Komedjand – frisst sei Wörschtsche aus der Hand

Das 1856 von Friedrich Stolze verfasste Gedicht hängt bei Ilse Schreiber an der Wand; eine Kunden- und Warenbeschreibung sozusagen. Die resolute Vierundsechzigjährige und ihr Mann, der Metzgermeister Anton Schreiber, leben nämlich von „dene Wörschtscher“, die sie in der Kleinmarkthalle in Frankfurt am Main an die genannten „Zielgruppen“ verkaufen – seit jetzt 25 Jahren. Ilse Schreiber ist eine Respektsperson in diesem schlichen zweistöckigen Gebäude ohne architektonische Raffinesse in der Hasengasse (sic!), das im Mai fünfzig Jahre alt wurde.

Die erste Kleinmarkthalle von 1879 war im Krieg zerbombt worden; sie wäre jetzt 125 Jahre alt geworden. Ein Doppeljubiläum der „Gemieskerch“ also, wie die neue Halle 1954 von den Frankfurtern getauft wurde. Die Grundversorgung mit Obst und Gemüse sollte sie sicherstellen. Damals – neun Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg – wohnten noch ein paar zehntausend Menschen in der City.

Das Gesicht der Innenstadt hat sich in diesen fünfzig Jahren radikal verändert. Frankfurt ist international geworden. Die Europäische Zentralbank hat hier ihren Sitz. Die Börse ist die bedeutendste auf dem Kontinent. Und knapp 500 größere und kleinere Vertretungen von ausländischen Banken mit ihren rund 20.000 Mitarbeitern haben sich am Finanzplatz Nummer zwei in Europa niedergelassen. Nach Kohl und Kappes fragen die gestanden Banker und die „Yuppies“ aus den Werbeagenturen, die Gourmets (fast) aller – gehobenen – sozialen Schichten nicht mehr. Gesucht wird heute Exotisches und Exquisites.

Die Kleinmarkthalle, die immer mit der Zeit ging, hat das aktuell alles zu bieten. Doch sie hat – bei allem Wandel – das spezifisch „frankforderische“ Flair nicht dem Zeitgeist geopfert. Die berühmte Frankfurter „grüne Soße“ aus 17 Kräutern, die schon Goethe schätzte, ist frisch mit gehackten Eiern zubereitet zum Gleichessen oder als Rohware im weißen Einwickelpapier mit der grünen Beschriftung an vielen Ständen zu haben. Und die lustigen „Tanten“ von der Wurstecke, wie die schon etwas älteren, immer freundlichen „Mädels“ von den Stammkunden gerne genannt werden, haben den besten Handkäs weit und breit im Angebot.

Es ist diese unvergleichliche Mischung aus Tradition und „Moderne“, die diesen „Marktplatz“ so attraktiv macht – auch für Touristen aus Fernost. Bei den Japanern etwa steht die Kleinmarkthalle sogar im Reiseführer; neben Goethehaus und Paulskirche. Und am Stand der Metzgerei Hoos drängeln sich die „Frankfurter Japaner“ aus den Banken. Japanisch ist die Schriftsprache am Stand. Und nur manchmal steht auch etwas auf Deutsch auf der Tafel: „Weideochsenfleisch“ etwa.

Die Kleinmarkthalle. Das sind mehr als sechzig Ladengeschäfte auf 1.500 Quadratmeter Fläche mit einer Galerie, auf der auch ein „Bioland-Metzger“ einen Stand mit Fleisch- und Wurstwaren betreibt. Wer die Treppe und nicht den Aufzug nimmt, landet prompt bei „Geflügel-Dietrich“. Darf es eine Poulet de Bresse sein? Oder ein Suppenhuhn aus dem Vogelsberg? Dietrich hat’s.

Nur ein paar Meter weiter, verschanzt hinter Bergen von Käse und Schinken, stellt „La Mamma“ von Alla vita Buona – zum guten Leben – köstliche Ravioli und Panzerotti selbst her. Sie ist eine Berühmtheit. Von unten steigt dem Besucher der Galerie der Duft vom Gewürzstand Horst Franck in die Nase. „Mein“ Gewürzmann verkauft nicht nur diesen wunderbaren Curry aus Madras und Pfefferkörner aus Brasilien, immer saftigen Knoblauch aus Frankreich und frische Kräuter, sondern auch den besten Kaffee der Stadt: den aus Mexiko, mild gebräunt von der Rösterei Wackers in Frankfurt.

Gleich nebenan hat der beste Italiener unten in der Halle seinen Stand. Wie wäre es mit Kochschinken mit schwarzen Trüffeln? Oder mit einem überraschend milden, aber geschmacklich bemerkenswerten Pecorino Sardo, der – zu Hause gerieben – die schlichten Penne arrabiata nach einem Rezept aus der Basilicata zu einem ganz wunderbaren Erlebnis avancieren lässt. Dann schnell noch ein Besuch bei den „blauen Jungs“ von Kracht. Die haben blaue Schürzen um – und eine Ziegenkäseauswahl, die jedem Affineur der Provence zur Ehre gereichen würde. Und weiter geht’s: In einem Bassin im Kellergeschoss schwimmen – nur freitags und samstags – lebende Fische aus dem Main, vor allem Karpfen. Der letzte Mainfischer greift persönlich zum Hammer, betäubt, sticht ab und weidet das Schuppentier anschließend aus.

Umstritten ist der riesige Stand der Sekte „Güter Neu Jerusalem“ oder „Universelles Leben“ (UL) mit ihrem angeblichen Biolabel „Gut zum Leben“. Vielen Anbietern in der Kleinmarkthalle sind die Sektierer aus Bayern nicht geheuer. Nach der ersten Aufregung vor einigen Jahren heißt es heute aber meist: „Leben – und leben lassen“ (Gewürzmann Franck). Und schließlich muss gesagt werden, dass die Sekte aus dem Frankenland ein köstliches Kümmelbrot backt.

Gelassenheit hat den alt eingesessenen Anbietern in der Kleinmarkthalle auch dabei geholfen, die im Westteil der Kleinmarkthalle fast flächendeckende Übernahme der Obst- und Gemüsestände durch ausländische Einzelhändler, vor allem Türken und Marokkaner, zu akzeptieren – wenn auch nicht immer ganz spannungsfrei. „Was guckst du!“, hat etwa der marokkanische Metzgermeister provokativ auf eine Tafel geschrieben, weil ihn die Schlange stehenden Kunden von Ilse Schreibers Wurstbude nebenan nerven. Schreiber hat spitz mit einer eigenen Tafel reagiert. Ihre Kundschaft muss sich jetzt „von links“ anstellen, „damit der Verkauf meines Nachbarn nicht behindert wird“. Zum 50. Geburtstag der Kleinmarkthalle, der mit viel Volksbelustigung drinnen und draußen vor der grauen, renovierungsbedürftigen Fassade gefeiert wurde, verfasste ein Anonymus ein Loblied. Das hängt jetzt überall an den Ständen:

„50 Jahre Kleinmarkthalle. 50 Jahr’ Genuss für alle. 50 Jahre Bitteschön! Danke – und Auf Wiedersehen.“

KLAUS-PETER KLINGELSCHMITT, 51, ist seit 22 Jahren taz-Korrespondent in Frankfurt am Main. Trotz derzeitiger Zimtdiät ist er Stammkunde der Kleinmarkthalle