Fiktive natürliche Väter

Wie die Logik der Nürnberger Rassengesetze ein zynisches, aber bisweilen lebensrettendes Schlupfloch schuf und in den Niederlanden deutsche Besatzungsbeamte Juden vor der Deportation retten halfen. Zum hundertsten Geburtstag eine Erinnerung an Gerhard Wander

von JOHANNES WINTER

Der Sicherheitsdienst (SD) war ihm offenbar schon länger auf der Spur. Am Abend des 22. Januar 1945 war es so weit. Die Fahnder im Dienste der SS hatten eine geheime Wohnung aufgespürt, sie observiert und schließlich gestürmt. Sie fanden einen Fotoapparat und gefälschte Stempel. Als Gerhard Wander wenig später das Haus in der Amsterdamer Weesperzijde betrat, muss er Verdacht geschöpft haben. Beim Versuch, das Gebäude durch die Hintertür wieder zu verlassen, wurde er gestellt und – in der Sprache der Verfolger – „auf der Flucht erschossen“. 1962 wurden seine sterblichen Überreste auf den niederländischen Ehrenfriedhof in Loenen bei Apeldoorn umgebettet.

Gerhard Wander wurde am 16. Juli 1903 in Escherningken, Ostpreußen, geboren. Die Nazis nannten den Ort später Gutfließ, heute liegt er in Russland und heißt Wissokoje. Nach dem Abitur ging Wander nach Königsberg, studierte Jura und ließ sich in der Stadt als Rechtsanwalt nieder. 1928 wurde er über Thema „Wirkung und Rechtfertigung des gutgläubigen Eigentumserwerbes vom Nichtberechtigten an beweglichen Sachen“ promoviert. Bereits 1931 trat er in die NSDAP ein. In Königsberg heiratete er Hildegard Korzen und wurde 1937 Vater einer Tochter.

Bei Kriegsausbruch wurde Wander eingezogen. Die Phase der Blitzkriege erlebte er in der Etappe. An die Front versetzt zu werden, davor bewahrte Wander wohl sein Alter. Als die Wehrmacht am 10. Mai 1940 die neutralen Niederlande überfiel, befand sich Hauptmann Gerhard Wander im Tross des Luftgau-Nachrichtenregiments 19/1.

Die Niederlande waren innerhalb von fünf Tagen besetzt, behielten jedoch ihre nominelle Unabhängigkeit, ebenso ihre zivile Verwaltung. Die Besatzer machten sich freilich unverzüglich daran, eine Aufsichtsbehörde aufzubauen, das „Reichskommissariat für die besetzten Gebiete der Niederlande“. Sie sollte das eroberte Land in das Reich eingliedern. Ähnlich wie Deutschland zu Anfang der Naziherrschaft wurden die Niederlande „gleichgeschaltet“.

In diese Monate fielen die ersten Maßnahmen, von denen die Juden der Niederlande betroffen waren, nämlich rund 140.000, von denen mehr als die Hälfte in Amsterdam lebten, außerdem rund 20.000 jüdische Flüchtlinge aus dem Reich, in Hitlers Jargon „Emigrantenjuden“. Sie sollten als erste „evakuiert“ werden, wie ein „Führerbefehl“ vorgab. Zu ihnen gehörte auch die Familie Frank aus Frankfurt am Main mit ihrer Tochter Anne, deren Beschreibung des Alltags im Versteck in der Amsterdamer Prinsengracht nach ihrem Tod weltbekannt werden sollte. Mit dem Mittel der Registrierung die Kontrolle über alle Juden zu erringen war der erste Schritt auf dem Weg in die Vernichtung.

Die entsprechende Verwaltungsvorschrift hieß „Verordnung betreffend die Meldepflicht von Personen voll- oder teilweise jüdischen Blutes“ oder kurz: VO 6/41. Sie trägt das Datum des 10. Januar 1941. Erarbeitet worden war sie in der „Entscheidungsstelle über die Meldepflicht aus VO 6/41“, die im Generalkommissariat für Verwaltung und Justiz angesiedelt war, Hauptabteilung Inneres, Abteilung Innere Verwaltung. Die Adresse: Binnenhof 19, mitten im Regierungsviertel von Den Haag.

Leiter der Entscheidungsstelle wurde Hans Calmeyer, ein Jurist aus Osnabrück, seit Beginn des Überfalls auf die Niederlande Unteroffizier einer Luftnachrichteneinheit, jetzt abgestellt an die Besatzungsbehörde. Ausgestattet mit dem Verdienst, Koautor der VO 6/41 zu sein, wechselte Calmeyer im März 1941 als „Rassereferent“ in die Verwaltung und wurde ein Jahr später der Vorgesetzte von Gerhard Wander.

Die Verordnung 6/41 war verfasst im Geist der 1935 in Nürnberg proklamierten Rassengesetze und sollte den Vollzug der Judenvernichtung regeln. Da war die Rede vom Volljuden mit vier beziehungsweise drei jüdischen Großeltern, Kürzel J 4 und J 3. Und da war die Rede vom „Halbjuden“, und zwar vom qualifizierten mit zwei jüdischen Großeltern, die zugleich Mitglieder der israelitischen Gemeinde waren, beziehungsweise mit einem jüdischen Ehepartner. Kürzel J 2. Die Menschen der Kategorien J 4, J 3 sowie J 2 waren, niemand ahnte es, zur Deportation vorgesehen.

Es war auch die Rede vom „normalen Halbjuden“, nicht mit einem Juden verheiratet, nicht Mitglied der israelitischen Kultusgemeinde. Kürzel: G I oder auch „Person gemischten Blutes I. Grades“. Und es war die Rede vom „Vierteljuden“ mit einem jüdischen Großelternteil alias G II alias „Mischling II. Grades“. Die Gruppen G I und G II würden von der Deportation verschont bleiben.

Ursprünglich hatte der entsprechende Erlass des niederländischen Innenministeriums die Formulierung favorisiert „B I – Bastard-Jude I“ bzw. „B II – Bastard-Jude II“. Und – ganz entscheidend – es war die Rede davon, dass „bei Zweifeln, ob eine Person als ganz oder teilweise jüdischen Blutes eingeordnet werden muss, auf Antrag der Reichskommissar oder die durch ihn angewiesene Instanz beschließt“.

Als Gerhard Wander am 1. Oktober 1942 seinen Dienst in der Entscheidungsstelle für Zweifelsfälle antrat, hatten die Deportationen der niederländischen Juden in die Vernichtungslager im Osten bereits begonnen. Er wurde sogleich mit einer neuen „Arbeitszeitverteilung“ konfrontiert, die drei deutsche (an erster Stelle seinen Vorgesetzten Calmeyer, an zweiter den Sippenforscher Heinrich Miessen, an dritter Wander selbst) und vier holländische Beamte umfasste.

Wander war laut dieser Anweisung zuständig für „alle Fälle, in denen außerehelicher Erzeuger anstelle gesetzlichen Vaters behauptet wird, und alle Fälle, bei denen erbbiologische Anhaltspunkte genealogischen Unterlagen widersprechen, einschließlich der Entscheidung, ob eine erbbiologische Untersuchung zugelassen werden soll. Außerdem die Fälle, in denen anstelle genealogischer Unterlagen eine Glaubhaftmachung über Zeugenbeweis oder juristisch bewertbare Umstände in Frage kommt.“

Der holländische Rechtsanwalt Benno Stokvis begegnete seinem Kollegen Wander nicht nur einmal. Aber an das erste Mal erinnerte er sich später genau. Wander habe ihn gefragt, warum er sich so viel Mühe gebe, Juden zu „Ariern“ erklären zu lassen, sie zu „arisieren“, worauf er, Stokvis, geantwortet habe: „Sie irren sich! Ich mache keine Juden zu Ariern. Ich helfe zu verhindern, dass Sie Arier als Juden nach dem Osten verschleppen.“

Das war im Oktober 1942, wenige Tage nach Wanders Amtsantritt. Der Hauptmann war von der Wehrmacht mit der Begründung abgestellt worden: „Die vom SD erbetene Herstellung von Sonderlisten für polizeiliche Zwecke, die Mitwirkung bei der Erfassung, insbesondere aber Sortierung jüdischen Blutes in solche, die einem Arbeitseinsatz oder einer Deportation zugeführt werden können, erfordert Eile.“

Der scheinbar absurde Dialog zwischen den beiden Juristen hatte einen gemeinsamen Humus, die tiefe Abneigung gegen den in Paragrafen gegossenen deutschen Rassenwahn. Parteimitglied Wander war, laut Aussage von Stokvis, inzwischen ein „scharfer Gegner des Naziregimes“ geworden. Die VO 6/41 erwies sich als Betriebsanleitung, mit der sie das deutsche Recht zu Gunsten ihrer vom Tod bedrohten Klienten umbiegen konnten.

Über dem Fall einer aus Russland stammenden Siebzigjährigen kam es zwischen Stokvis und Wander zum Streit. Die Frau behauptete, sie habe sich aus Solidarität mit ihrem jüdischen Ehepartner als Jüdin registrieren lassen, obwohl sie in Wirklichkeit von „voll arischen“ russischen Eltern abstamme, nach deren frühzeitigem Tode sie von einem jüdischen Ehepaar adoptiert worden sei.

Wander war, wie Stokvis sich erinnerte, zunächst unwillig. Er habe darauf verwiesen, dass immerhin sieben Rabbiner erklärt hätten, ihnen sei bekannt, dass die Frau eine Tochter des jüdischen Ehepaares sei, das sie ihre Pflegeeltern genannt habe. Wander sei störrisch geblieben, auch gegen den Einwand, eine solche Erklärung, abgegeben 29 Jahre nach der Geburt, habe nur einen geringen objektiven Wert.

Da schlug Stokvis, inzwischen ratlos, mit der Faust auf den Tisch und rief aus: „Seit wann, Dr. Wander, ist die Aussage von sieben Rabbinern im Deutschen Reich glaubhaft?!“ Wander sei zunächst sprachlos gewesen, dann handelte er: Die alte Dame war alsbald „arisch“, also nicht mehr „anmeldepflichtig“, ihr volljüdischer Mann, nun also in Mischehe lebend, bekam einen Sperrstempel und wurde, nach der Erklärung, er sei steril, von seinem Judenstern befreit. Und die beiden Söhne wurden zu „G I“, „Mischlingen mit zwei jüdischen Großeltern“. Wochen später waren vier Menschen vorläufig gerettet, ein „Hinrichtungsaufschub“ in den Augen der Verfolgten.

Ein Wissenschaftler, den Wander gern mit Expertisen beauftragte, war der Anthropologe Hans Weinert von der Universität Kiel. Weinert war eine, wie der niederländische Historiker Jakob Presser schreibt, „pittoreske Gestalt – denn er war bestechlich und darum nicht gefährlich“. In seinem Gutachten – die „Honorare“ Weinerts lagen zwischen 750 und 10.000 Gulden – für den Sohn der alten Dame aus Russland heißt es: „Der Prüfling sieht so wenig jüdisch aus, dass kein Anlass vorliegt, ihn für einen Juden zu halten. Es ist wohl kaum anzunehmen, dass der Prüfling sein Aussehen von rein jüdischen Eltern erhalten haben könnte. Insofern ist man berechtigt, den Bekundigungen Glauben zu schenken und den Prüfling als Mischling ersten Grades einzustufen.“ Eine Farce, durch die Menschen, indem sie ihre Eigenschaft als Juden ausstreichen ließen, „legal“ gerettet wurden.

Was dann begann, wurde im Schriftverkehr des SD als „Abstammungsschwindel“ geführt. Mit Beginn der Deportationen im Juli 1942 blühte auf, was Jakob Presser „eine nationale Kleinindustrie für Fälschungen“ nennt. „Wir haben große Banditen gebraucht, um zu überleben“, so der kühle Kommentar von Lilly Peiser aus Frankfurt am Main. Auch sie hat die Emigration in Holland nur mit falschen Papieren überlebt.

Insgesamt gingen bei der Dienststelle Calmeyer, wo Juristen in die Rolle von Herren über Leben und Tod hineinwuchsen, mehrere tausend Anträge ein, um die eigene Abstammung zu überprüfen. Etwa vier Prozent aller in den Niederlanden registrierten Juden meldeten einen Zweifelsfall an. Die Angaben, wie viele von ihnen erfolgreich waren und so die Verfolgung überlebten, schwanken. Laut Reichsinspektion bearbeitete die Entscheidungsstelle 5.211 Anträge, 700 davon erhielten die Freistellung.

Die Historikerin Geraldien van Frijtag vom Niederländischen Institut für Kriegsdokumentation (NIOD) führt eine zweite Statistik an. Sie stammt von der deutschen Sicherheitspolizei und umfasst 5.667 Fälle. Davon seien zwei Drittel, also rund 3.500, von der Deportationsliste gestrichen worden. Der niederländische Rechtsanwalt Louis de Jong, selbst aktiv bei der lebensrettenden Dokumentenherstellung, hält es für wahrscheinlich, dass von fünf Zweifelsfällen zwei abgelehnt wurden.

Ziel der Eingaben, die Gnadengesuchen gleichkamen, war es, in die Sperrliste der von der SS kontrollierten Zentralstelle für jüdische Auswanderung (ZJA) aufgenommen zu werden, um dem Tod im Osten zu entgehen. Als Beweismittel dienten eidesstattliche Versicherungen, notariell beglaubigte Zeugenaussagen, Gutachten, Vaterschaftsnachweise, Stammbäume.

Vorstufe dieser Liste war die Rückstellungsliste der Dienststelle Calmeyer, in der Behörde auch „Calmeyer-Liste“ genannt. Wer darauf stand, war „gecalmeyert“ oder, im Deutsch jener Jahre, arisiert. Er war ein Jude, der kein Jude mehr war. Zum Vergleich: Arisiertes jüdisches Eigentum war enteignet, verloren – ein arisierter jüdischer Mensch war gerettet.

Die jüdischen Bittsteller fanden Anwälte, die sich auf die Zweifelsfälle spezialisierten und sie gegenüber den deutschen und niederländischen Behörden vertraten. Ärzte boten sich an, medizinische Untersuchungen auszuführen und beweiskräftige Gutachten abzuliefern. Anthropologen begutachteten und bestätigten „nordische Rassemerkmale“. Sippenforscher durchforsteten Ahnentafeln und entdeckten „arische“ Vorfahren.

Es gab niederländische Gemeindebeamte, die in den Archivablagen belastende Dokumente, Karteien und Eintragungen entschärften oder verschwinden ließen. Es gab kirchliche Amtsträger, die sich an die Änderung von Tauf-, Hochzeits- und Sterberegistern heranwagten. Andere Experten stöberten altes Briefpapier auf, experimentierten mit Chemikalien, um die entsprechende Tinte zu erhalten, und fabrizierten dann originalgetreue Schriftstücke. Eidesstattliche Erklärungen von Verwandten und Freunden sicherten die Gesuche ab, Beamte bearbeiteten sie wohlwollend. Und das Amsterdamer Gemeindearchiv blieb den Betroffenen zugänglich. Der Raum, in dem jüdische Besucher ihre Akten studieren konnten, hieß bei ihnen „Sternwarte“.

Im Dezember 1942 hatte Wander einen anderen, gut belegten Fall zu bearbeiten. Offenbar reichten die vorgelegten Papiere nicht aus, um der Glaubwürdigkeit der Antragstellerin nachzuhelfen. Ihr ging es darum, aus den lebensbedrohlichen Kategorien des „J“ in den sichereren Bereich des „G“ zu wechseln, von der Deportations- auf die Rückstellungsliste der Dienststelle Calmeyer und damit die Sperrliste der ZJA zu kommen.

Den Antrag gestellt hatte Camilla Spira, Tochter einer deutschen Emigrantenfamilie aus Berlin und Ufa-Star der Dreißigerjahre mit der Glanzpartie im „Weißen Rössl“. Wander teilte ihr mit, sie solle stützende Belege beibringen. Denn sie müsse „Ihre Behauptung beweisen, dass Sie nicht das Kind Ihres gesetzlichen Vaters sind“. Der Jurist gab sogar einen regelrechten Tipp: Er stelle „anheim, nach dieser Richtung hin ausführliche Angaben unter Bezeichnung der Beweismittel zu machen“.

Camilla Spira reichte nach, vor allem eidesstattliche Erklärungen. In einer hieß es, dass ihr Vater gar nicht ihr wirklicher Vater sei, habe ihr die Mutter schon im Jahre 1933, „als die Judenfrage acut wurde“, gestanden. Gleichwohl habe sie bisher nichts zur „Richtigstellung meiner Herkunft“ unternommen. Immerhin sei sie seit 1927 mit Dr. Hermann Eisner verheiratet, der jetzt beim Joodsche Rat (Judenrat) in Amsterdam tätig sei, und habe mit ihm zwei Kinder. Dass sie also rein arisch sei, von alledem wisse ihr Mann nichts. Sie wolle ihm daher „in den heutigen schweren Tagen nicht noch eine unnötige Belastung aufbürden“.

Ein „ue-Kind“, also unehelich geboren zu sein und einen (erfundenen) Ehebruch der eigenen Mutter aktenkundig zu machen, war zu einer Sache der Selbsterhaltung geworden. Die perfide Logik der deutschen Rassengesetze ließ als einziges Schlupfloch, um das eigene Leben und das der Kinder zu retten, diese Form der Selbsterniedrigung. Der niederländische Historiker Jacob Presser fragt in diesem Zusammenhang, „ob ethische Normen da gelten, wo jede sittliche Gemeinschaft zerbrochen ist – ist Ehrgefühl und Würde gegenüber einem tollwütigen Hund nicht Torheit?“. Das Maß an Not und Selbstüberwindung, diese Hilfe anzunehmen, lässt sich indes kaum ermessen.

Aus den Akten im Niederländischen Institut für Kriegsdokumentation geht hervor, dass die so genannte Seitensprungvariante so häufig von den Anwälten gewählt wurde, dass Wander einmal Stokvis gegenüber eher zynisch als süffisant äußerte, er habe nie gewusst, „dass die jüdischen Frauen so unsittlich sind“. Der Bericht einer Regierungskommission stellte fest: „In den höchsten Kreisen in den Niederlanden scheinen Sitten geherrscht zu haben wie in Sodom und Gomorrha oder im spätrömischen Reich. Ehebruch war das Gebot der Stunde.“

Es fehlte nicht viel, und Camilla Spira wäre in die Vernichtungslager deportiert worden. In das niederländische Durchgangslager Westerbork war sie bereits gebracht worden. Sie trat dort in der Häftlingsrevue auf und hatte schließlich – auch sie eine verzweifelte Kundin der Dokumentenfälscher – Glück. Wochen später teilte ihr die Dienststelle mit, sie sei nicht meldepflichtig, mithin also bis auf weiteres von der Deportation freigestellt. Camilla Spira überlebte.

Gerhard Wander kämpfte mit allerlei juristischen Finessen um die Menschen, die auf der Deportationsliste standen. Wie viele er gerettet hat, ist nicht in Zahlen zu fassen. Im Archiv von Jad Vaschem, der Holocaust-Gedenkstätte Israels, liegen rund dreißig Aussagen Überlebender vor. Sie haben bewirkt, dass Wander posthum als „Gerechter der Völker“ geehrt wurde. Denn er hatte sogar, wie Jakob Presser schreibt, den Mut, Verfolgten, deren Antrag abgewiesen worden war, rechtzeitig ein Signal zum Untertauchen zu geben.

Rechtsanwalt Stokvis hat die Technik des Arisierens verfeinert. Zuallererst musste der „arische“ Vater gefunden werden, lebend oder tot. Am besten musste er dieselbe Blutgruppe haben, was dann in Gutachten bestätigt wurde. Günstig war, wenn sich die, so Stokvis, „Arieraspiranten“ und ihre angeblichen Erzeuger ähnelten. Dafür retuschierten und zauberten erfahrene Fotografen verblüffende Ähnlichkeiten.

In einem anderen belegten Fall ging es um eine Familie aus Ungarn, die in Amsterdam lebte. Erst eine langwierige und zeitraubende Suche nach „einschlägigen Abstammungsunterlagen“ bewirkte, dass der Vater, ursprünglich Kategorie „J 4“, ebenso von der Deportationsliste gestrichen wurde wie seine (getauften) Kinder, die zu „G I“ mutierten. Nach Ansicht des Büros Wander lag die Problematik des Falles nicht bei der Abstammung. Zugrunde lag ihm die zweite Bedingung aus VO 6/41: die Zugehörigkeit zur jüdischen Kultusgemeinde. In der Sprache der deutschen Amtsjuristen war dies „ein ungewöhnlich seltener Fall konfessioneller Verjudung einer der Rasse nach fast ganz arischen Familie“.

Der „Proband“ sei nämlich von Eltern geboren, die der Religion nach israelitisch waren, „trotzdem herrschte in der Familie arisches Milieu vor“. Er stamme einerseits, laut eigener Anmeldung, von vier jüdischen Großeltern („J 4“) ab, doch seine Eltern (Vater: Bäcker) seien bereits römisch-katholisch gewesen. Kurz nach der Heirat habe sich das Paar zwar der Israelitischen Gemeinde Budapest angeschlossen. Doch der einzige Grund sei die „Übernahme einer Bäckerei gewesen, deren Kundschaft größtenteils aus Juden bestand“.

Da die Bäckerleute aber nachweislich früh verstorben waren, mussten, um der schwachen Beweislage aufzuhelfen, ihre fehlenden persönlichen Aussagen durch eidesstattliche Erklärungen des Pfarrers der griechisch-katholisch-serbischen Kirchengemeinde, des früheren Arbeitgebers sowie des Antragstellers selbst ersetzt werden.

Aus ihnen ging des weiteren hervor: „Karl Steirer“, so der Name des Mannes aus Budapest, „hat christliche Schulen besucht und ist später, im 1. Weltkrieg, Offizier in der ungarischen Wehrmacht [sic!] gewesen.“ Hieraus und aus dem vorher Gesagten ergebe sich, dass der frühere ungarische Staatsangehörige K. S. „nicht meldepflichtig“ sei, die Kinder ebenso wenig, dass sie also so genannte Calmeyer-Juden seien und mithin „entsternt und freigestellt“.

Solche Texte waren es, die Wander und seine Kollegen formulierten, Mittäter- und Gegnerschaft aufs innigste vermischend, in einer Nische, wo Gutes zu tun, um Böses zu verhindern, die Maxime war. Eine Gruppe von Rettern in der Maske der Täter.

War es Aberwitz, war es juristische Spitzfindigkeit – mit den Waffen der Rassenfanatiker ließen sich Menschen retten. Ein kunstvoll erstellter Stammbaum wurde zum Schlüssel für eine ungefährdete Identität. Stokvis nannte das „Schwindeleien“ – vor allem die Erfindung des so genannten fiktiven natürlichen Vaters, eines „arischen“ mithin. Für jemanden, der eine solche Erklärung abgab, war dies nicht ungefährlich. Der Druck des misstrauischen SD war stark, richtete sich nicht nur gegen die holländischen Anwälte wie Stokvis, sondern auch gegen die Entscheidungsstelle. Die „fingierten Erzeuger“ galten als ihr Produkt.

Hauptmann Wander hat deshalb nur ein halbes Jahr im zivilen Gewand des Juristen handeln können. Hinzu kamen Unstimmigkeiten mit seinem Vorgesetzten Calmeyer. Offenbar hatte Wander Briefpapier aus seiner Dienststelle weitergegeben. Anschließend war es für Erklärungen verwandt worden, die belegen sollten, dass jemand zu Unrecht auf der Deportationsliste stand. Und diese waren auf dem Schreibtisch des SS-Offiziers Ferdinand aus der Fünten gelandet, des Leiters der Zentrale für jüdische Auswanderung (ZJA), der Wanders Chef Calmeyer zu überwachen hatte.

Calmeyer suchte aus der Fünten zu beruhigen und schrieb ihm: „Es wird sich in der Regel um Mitteilungen handeln, die von Dr. Wander unterzeichnet sind. Dr. Wander hat mit diesen Bescheinigungen meine strikten Anweisungen übertreten.“

Ob es Wanders Leichtfertigkeit war, die die Arbeit der Entscheidungsstelle in Gefahr brachte? Die Rettung von Juden war in jedem Fall selektiv – in den Worten des niederländischen Anwalts Joseph Michman: „Derjenige, der alle Juden retten wollte, rettete niemanden.“ Calmeyer schickte seinen Brief an aus der Fünten jedenfalls erst ab, als Wander bereits an der Ostfront war, degradiert zum Obergefreiten und stationiert in der Nähe von Leningrad.

Nach dem Krieg brachte Calmeyer, ohne Gegenrede befürchten zu müssen, das Thema Korruption auf: Ihm sei damals zu Ohren gekommen, dass Wander sich seine Bemühungen einmal mit einem Pfund Kaffee habe belohnen lassen. Dies sei für ihn der Grund gewesen, um die Versetzung seines Kollegen nachzusuchen. Beweise dafür liegen nicht vor. In einem Milieu, das unter den Augen von SD und Gestapo mit allen Listen und Tricks arbeitete, dürften noch ganz andere Geschenke, ob in Geld oder Naturalien, übergeben worden sein.

Mit dem 1. April 1943 wurde Wander an die Ostfront abkommandiert. Sicher ist, dass Wander dort endgültig den Entschluss fasste, die Seite zu wechseln – vermutlich in der Nähe von Leningrad, wohin er befohlen worden war. Mit einem Urlaubsschein in der Tasche durchquerte er offenbar Deutschland und kehrte Anfang 1944 als Deserteur zurück in die Niederlande.

Amsterdam war im Krieg zu seiner zweiten Heimat geworden. Hier arbeitete er unter dem Decknamen Jonas mit dem holländischen Widerstand gegen die Nazibesetzung. Einer seiner Kontaktleute, der niederländische Polizist Eduard van der Noordaa, berichtete nach dem Krieg, den Plänen des Widerstandskreises um Graf Stauffenberg zufolge sei Wander in der ersten freien Regierung Deutschlands als Justizminister vorgesehen gewesen.

Ende Januar 1945, als Gerhard Wander versuchte, mit den sich nähernden Alliierten Kontakt aufzunehmen, wurde er vom SD entdeckt und erschossen.

JOHANNES WINTER, Jahrgang 1946, lebt als Autor und Rundfunkredakteur in Frankfurt am Main. Sein Text, den wir gekürzt drucken, erschien in „Retter in Uniform. Handlungsspielräume im Vernichtungskrieg der Wehrmacht“, herausgegeben von Wolfram Wette, Frankfurt am Main 2002, Fischer, 247 Seiten, 13,90 Euro