Eine Frage der Verhältnismäßigkeit

Ein Radfahrer fährt betrunken über eine rote Ampel. Die Polizei verfolgt ihn, Streifenwagen und Radler stoßen zusammen. Ergebnis: Pöbeleien, eine gebrochene Schulter und ein schrottreifes Fahrrad. Wer hat Schuld? Die Polizei ermittelt

taz ■ „Ich bin so gegen halb eins nachts den Richtweg entlang gefahren, als ich plötzlich einen dumpfen Knall hörte. Als ich mich umgedreht habe, sah ich, dass ein Streifenwagen einen Radfahrer angefahren hatte“, berichtet eine Zeugin (Name der taz bekannt) von den Ereignissen Donnerstagnacht. Sie sei zur Unfallstelle umgekehrt und habe gehört, wie die Polizisten den zu Boden gestürzten Radler beschimpften: „Na, da haben wir dich ja endlich!“ habe der eine gesagt, der andere gar „Da bist du ja, du blöde Sau!“ gepöbelt. Die „blöde Sau“ krümmte sich in dem Moment mit einer frisch gebrochenen Schulter am Boden.

„Ich hatte Schmerzen ohne Ende und bekam kaum Luft, weil alles so zusammen gestaucht war“, sagt der verletze Markus G. am nächsten Tag. Der arbeitslose Computerfachmann gibt zu, dass er betrunken im Sattel gesessen hat: „Ich hatte gut was getankt und wollte noch zu ’ner anderen Party.“ Dass er bei Rot den Breitenweg überquert hat, scheint auch unumstritten.

Bei der Frage, wie es zu dem Unfall kam, gehen die Darstellungen auseinander. Der Verletzte berichtet: Vom Breitenweg kommend, sei er „beim StuBu durch“ gefahren und wollte in die Wallanlagen einbiegen. Dass die Polizei ihn seit der roten Ampel verfolgt habe, habe er nicht bemerkt. „Hinter mir hat mal jemand Lichthupe gemacht, aber ich dachte, der wollte vorbei“, sagt er. Auf einmal sei ihm der Streifenwagen in die linke Seite gefahren. „Die haben mich richtig abgeschossen, anders kann ich das nicht nennen“, sagt der 33-Jährige. „Ich bin nach links gestürzt, auf die Motorhaube, gegen die Windschutzscheibe geflogen und dann quasi abgetropft.“ Er wisse auch nicht, was sich die Polizei dabei gedacht habe, sagt er. Sein Hollandrad war zwar nicht neu, aber sein einziges, sagt er, jetzt ist es „Schrott“.

Der Polizeibericht sieht den Vorfall anders: Pressesprecher Sebastian Kappner gibt wieder, der Radfahrer habe sich schon vor dem Unfall „mehrfach der Kontrolle entzogen“. Er sei nämlich ohne Licht gefahren. Auf die Aufforderung der Polizei, stehen zu bleiben habe G. geantwortet „Nein, mach ich nicht.“ Er sei Schlangenlinien gefahren, an der Rembertistraße habe ein Autofahrer wegen G. abbremsen müssen. „Er hat auch andere gefährdet“, sagt Kappner. Über das Szenario im Richtweg sagt der Bericht, dass Markus G. „mit der Pedale gegen den Wagen gestoßen“ sei. Ansonsten sind die Informationen mager. Wie es zu dem „Zusammenstoß“ gekommen ist, steht da nicht. „Das wird jetzt Mosaikstein für Mosaikstein zusammengesetzt“, sagt der Polizeisprecher.

Dass die Polizei mit ihrem Wagen nicht in den Betrunkenen hinein, sondern vor ihn fahren wollte, um ihn zum Anhalten zu zwingen, bezweifelt die Zeugin. Schließlich habe sich die Streifenwagenbesatzung direkt nach dem Zusammenstoß alles andere als besorgt gegenüber dem Verletzten verhalten. Die Zeugin sorgte dafür, dass nicht nur ein Krankenwagen, sondern auch weitere Polizei dazu gerufen wurde, um den Unfall aufzunehmen. „Einer der Polizisten, die dazu gekommen waren, reagierte sehr emotional“, erinnert sie sich. Er habe es „absolut verhältnismäßig“ genannt, jemanden „auf diese Weise“ zu stoppen. Zur Frage der Verhältnismäßigkeit sagt der Polizeisprecher, man müsse immer zwischen Rechtsgütern abwägen, Leben und Gesundheit seien solche Rechtsgüter. In diesem Fall mussten die Ordnungshüter offenbar abwägen zwischen der Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit und mindestens der Gefahr eines Unfalls.

Markus G. trägt jetzt einen Streckverband, mit dem er weder auf dem Rücken noch auf der Seite liegen kann. Er fürchtet, „noch mindestens einen Monat, wenn nicht zwei“ mit der gebrochenen Schulter außer Gefecht gesetzt zu sein. Den geplanten Geburtstagsbesuch bei seinem Bruder in Berlin hat er sich sowieso schon abgeschminkt.

Ulrike Bendrat