Die Peinlichkeit, Bruno zu sein

Schluss mit dem Menschentheater: Zum Ende von Christoph Marthalers Züricher Intendanz wird ein kühler Blick auf den neuen Menschen geworfen. Den „Elementarteilchen“ von Michel Houellebecq nimmt die Regie von Johan Simons Zynismus und Geilheit. Und gönnt den Schauspielern Sternstunden

VON TOBI MÜLLER

Warum Michel Houellebecq und warum jetzt, wenn die medialen Verschwitztheiten um den 1999 auf Deutsch erschienenen Roman „Elementarteilchen“ längst vertrocknet sind? Eben, genau darum. Denn bloß weil man mit der „Third Culture“, wie man vor ein paar Jahren die Heirat von Natur- und Geisteswissenschaft im Feuilleton ausrief, nicht mehr so viele Zeitungen verkaufen kann, ist die Gentechnikfrage nicht weniger dringlich geworden. Und davon handelt „Elementarteilchen“. Oder vielmehr vom Menschen, wie er einmal war. Von den veralteten Bedingungen seiner Fortpflanzung, von den Verheißungen einer sexuellen Revolution, die in eine Industrie der Vereinsamung und der Enttäuschung mündete, von Pornografie also, Jugendkult und vom Ende der Geschichte. So will es Houellebecqs Thesenroman.

Regisseur Albrecht Hirche hat ihn fürs Theater Basel erst im Februar reichlich illustrierend und damit fast brav auf die Bühne gebracht. Im Schauspielhaus Zürich nun weitet sich die Vorlage unter Johan Simons’ Regie zum gedanklich offenen und formal stark reduzierten Kammerspiel. Simons beschert der Direktion Marthaler, die nun zu Ende geht, einen starken Abtritt mit dezentem Schaudern.

Knapp ein Viertel der Zuschauer sitzt auf einer Bühnentribüne und schaut in den Saal – und der Saal schaut zurück. Dazwischen liegt die Spielfläche. Das Licht bleibt an, die Spannung auch. Rasch verteilen sich die Schauspieler auf der stark gewellten Spielfläche aus Holz, die weit ins Parkett reicht. Jens Kilians Bühne bleibt rein funktional: Wer darauf gehen muss, stolpert linkisch, unnatürlich – gespielt. Sylvana Krappatsch, André Jung, Robert Hunger-Bühler, Yvon Jansen und die mit leicht holländischem Akzent sprechende Chris Nietvelt strahlen stumm auf allen Seiten des Publikums. Hier ist sie, die neue Spezies, deren primäres Bedürfnis nicht auf Individualismus zielt, sondern auf Mitgefühl. Kein Geschlecht, kein Sex, kein Krieg mehr! Gleichschaltung. Glück. Doch sie reden von Liebe und stehen dabei weit auseinander. Die Blicke grinsen ins Leere. Horror.

Geschaffen hat die neue Spezies ein schüchterner Mann namens Michel, Zellforscher und Halbbruder von Bruno, der sich wiederum notgeil durchs Leben wichst. André Jung ist Bruno, nein: er wird zu Bruno, und es scheint Jung stets ein bisschen peinlich, Bruno zu sein. Und doch passt die Peinlichkeit genauso gut zu Brunos Figur. André Jung macht daraus eine grandiose Unentscheidbarkeit zwischen dem Schauspieler und seiner Rolle. Das gilt für alle. Denn nichts wird realistisch nachgestellt, aber alles erzählt, aus der Ferne erinnert und gezeigt, wie es die Stückfassung von Tom Blokdijk und Koen Tachelet vorsieht.

Der Holländer Johan Simons gehört zu jenen Regisseuren, die auf der Bühne Distanz schaffen. So modern Simons’ Mittel anmuten – so kühl, so minimal, so formalistisch –, so altmodisch ist das Ziel. Denn Simons will Texte von ihrem Ballast befreien, um ihnen besser, heißt: unaufgeregter, zuhören zu können. In Zürich gelingt ihm eine ungeile und unzynische Sicht auf einen geilen und zynischen Stoff, ohne deshalb asketisch zu wirken – sprachlich geht’s noch immer zur Sache. Er blickt kühl auf Houellebecq, weil er dessen moralische Anklage ernst nimmt, ihre Provokation dann weniger.

Spät in ihrem Leben erfahren Bruno und Michel eine Annäherung an die Liebe oder was sie dafür halten. Bruno lernt im Feriencamp Christiane kennen. Sylvana Krappatsch und André Jung haben zum Abschluss der Spielzeit eine Sternstunde. Wie ein altes Ehepaar halten sie kurz die Hände, unterbrechen sich gegenseitig, als würde man ein Anekdötchen vor Freunden erzählen und nicht vom Swingerclub.

Wenn Hunger-Bühlers Michel auf seine platonische Jugendliebe Annabelle trifft, wiederholt Yvon Jansen mit ihrer Geschichte die seelischen und körperlichen Kränkungen, wie sie der Roman ausschließlich kennt. Überraschend ist das nicht mehr. Aber erhellend gespielt. Das Begehren ist intakt, doch jeder Versuch der Annäherung schreit räumlich und gestisch von sprichwörtlich tierischer Angst. Oder sind das nur die neuen Menschen, die sich vor dem Schweiß, vor dem unrasierten Achselhaar des andern fürchten? Ist dieses Leben wirklich erhaltenswert?

Fünf Jahre nach Erscheinen der deutschen Übersetzung von Michel Houellebecqs Roman scheint es zumindest möglich, ruhig hinzuhören. Vielleicht ist damit ja schon der Beweis erbracht, dass wir uns trotz alledem nicht abschaffen sollten.