Zigeuner ohne Romantik

Seit der Osterweiterung sind die Roma die größte Minderheit im vereinigten Europa. Ihre Integration ist eine immense Herausforderung, eröffnet aber auch Chancen auf eine kulturelle Renaissance

Bildung und Bücher sind für die rund 300 Schüler nichts SelbstverständlichesDas Gandhi-Gymnasium ist Experiment, Symbol und Exempel zugleich

VON DANIEL BAX

Wer sich vom Bahnhof im ungarischen Pécs auf dem Weg zum Gandhi-Gymnasium macht, dem kann es leicht passieren, dass ihm Wohlmeinende raten, auf Wertsachen aufzupassen: Die Vorurteile gegenüber Zigeunern sitzen tief in Ungarn, auch in Pécs. Als vor einigen Wochen jedoch die neue Bibliothek der Schule eröffnet wurde, fuhren sogar Limousinen aus Budapest vor, darunter die des Gesandten der deutschen Botschaft. Schließlich halfen auch deutsche Stiftungsgelder mit, die Bibliothek zu realisieren, sowie das tatkräftige Engagement des Goethe-Instituts in Budapest.

Im Flur des Gymnasiums war an diesem Festtag eine kleine Galerie mit Bildern des deutschen Fotografen Reimar Ott ausgestellt, der die Schüler zu Hause, im Kreis ihrer Familien porträtiert hat. An der kargen Einrichtung der dörflich anmutenden Wohnzimmer konnte man ablesen, dass die meisten aus einfachen, meist ärmlichen Verhältnissen stammen: Ein Fernseher oder eine Hi-Fi-Anlage bilden oft den einzigen Luxus.

Auf ein beredtes Detail machte die Schuldirektorin Erika Csovcsis später in ihrer kurzen Ansprache mit einer gezielten Indiskretion aufmerksam. „Wenn Sie sich die Bilder ansehen, dann wird Ihnen auffallen, dass darauf keine Bücher zu sehen sind“, hob sie hervor. Und wies die Gäste, die zur Eröffnung der neuen Schulbibliothek gekommen waren, darauf hin, dass Bildung und Bücher für die rund 300 Roma-Teenager, die das Gandhi-Gymnasium in Pécs besuchen, keine Selbstverständlichkeit sind. Für sie bildet das Gandhi-Gymnasium das Tor zu realen Aufstiegschancen. Die einzigartige Schule wurde 1994 eröffnet mit dem Ziel, junge Roma zu Abitur und Studium zu führen. Auf diesem Wege, so die Hoffnung, könnte der Roma-Minderheit eines Tages eine selbstbewusste Elite aus Anwälten, Lehrern und Ärzten erwachsen, die bislang in dieser Breite noch fehlt.

Seit der Osterweiterung der EU sind die Roma zur größten Minderheit im vereinigten Europa aufgestiegen: Mit dem Beitritt ihrer Länder sind auch über eine Million Roma zu EU-Bürgern geworden. Doch ob in Ungarn, wo rund 500.000 Roma leben, Tschechien (ca. 300.000 Roma), Polen oder in der Slowakei (ca. 400.000 Roma): Überall stehen sie am Rande der Gesellschaft und sind stark von Arbeitslosigkeit und Diskriminierungen betroffen. Die EU fordert von ihren Beitrittskandidaten den besonderen Schutz ihrer Minderheiten, und die Lage der Roma in Osteuropa war in vielen Berichten der EU-Komission ein häufig wiederkehrender Kritikpunkt.

Im Vorfeld der Osterweiterung drängte die EU ihre Beitrittskandidaten, das Problem in Angriff zu nehmen. So wurden allerorten Minderheitenrechte gesetzlich verankert, Roma-Beauftragte berufen oder, wie in Tschechien, spezielle Streetworker für Roma-Straßenkinder eingestellt. Am Beispiel der Roma holen die Beitrittsländer nun im Schnelldurchlauf nach, was im Westen an Debatten um Multikulturalismus und Minderheitenrechte geführt wurde. So fordert der Roma-Rat in der Slowakei ein Antidiskriminierungsgesetz für staatliche Betriebe und Ämter, wie es auch hierzulande schon vorgeschlagen wurde. Da gibt es großen Nachholbedarf, denn der Umgang mit den Roma in Osteuropa ist von Versäumnissen und Verdrängungen geprägt. Andererseits ist manches auch beispielhaft.

So wie das Gandhi-Gymnasium in Pécs, ein europaweit beachtetes Projekt, das seine Existenz ganz der Eigeninitiative des 1999 verstorbenen Schulgründers, Soziologen und Roma-Intellektuellen Janos Bogdan verdankt. Die vor zehn Jahren gegründete Schule ist für die Emanzipation der Roma-Minderheit in Osteuropa in etwa das, was die Summerhill-Schule einst für die antiautoritäre Pädagogik war: Es ist Experiment, Symbol und Exempel zugleich. Jedes Jahr nimmt sie 50 Schüler auf, die durch ein aufwändiges Auswahlverfahren ausgesucht werden: die Mehrheit aus der 160.000 Einwohner zählenden Stadt Pécs an der kroatischen Grenze oder den umliegenden Dörfern – einer Region, die von hoher Arbeitslosigkeit gezeichnet ist. Die Roma halten sich hier überwiegend mit Kleintierhaltung und Gemüseanbau über Wasser, viele sind Analphabeten.

Die Betreuung der Familien gehört zur Arbeit der Gandhi-Pädagogen dazu: Sie müssen die Eltern überhaupt erst dazu motivieren, in die schulische Karriere ihrer Kinder zu investieren, statt sie als Arbeitskräfte einzuspannen. Ab 14 werden Roma-Teenager von ihren Gemeinschaften als Erwachsene betrachtet, mit 16 bekommen die meisten üblicherweise selbst schon wieder Kinder. Zurzeit besuchen 300 Schüler das Gymnasium mit angeschlossenem Internat.

Romani Rose, der Vorsitzende des deutschen Zentralrats der Sinti und Roma, zeigte sich bei der feierlichen Einweihung der Bibliothek sichtlich beeindruckt: „Diese Schule hat Vorbildcharakter“, sagte er. „Sie widerspricht dem Vorurteil, dass Sinti und Roma das Bildungssystem ablehnen würden. Der Staat muss ihnen nur eine Chance geben!“

Davon ist man in Ungarn allerdings noch weit entfernt. Zwar stellen die Roma rund 7 Prozent der Bevölkerung. Ihr Anteil an den Abiturienten liegt aber bei unter 1 Prozent. Kaum die Hälfte aller Roma-Kinder schließt überhaupt die Grundschule ab, kaum eine(r) schafft es bis an die Universität.

Die Bildungsmisere hat viele Ursachen. Bei der Einschulung haben die meisten Roma-Kinder noch nie einen Bleistift, geschweige denn ein Buch in der Hand gehabt. Darum werden sie von ungarischen Lehrern häufig auf die letzte Schulbank gesetzt oder gleich in Sonderschulen abgeschoben. Auf beiden Seiten herrscht tiefes Misstrauen – der Roma gegenüber den staatlichen Institutionen und den Sinn der Schulbildung, der ungarischen Lehrer gegenüber der Kompetenz ihrer Roma-Schüler.

In manchen Gegenden Ungarns sind die Sonderschulen so zu reinen Auffangbecken für Roma-Schüler geworden, kam 1997 bei einer ersten umfassenden Studie der ungarischen Regierung heraus. Erstaunlicherweise gab es keinerlei öffentliche Reaktion auf diesen Bericht, registrierte Jenö Kaltenbach, der Minderheitenbeauftragte des ungarischen Parlaments, überrascht. Erst als eine zweite Studie die Verantwortung dafür auch bei rassistischen Einstellungen ungarischer Lehramtskandidaten festmachte, setzte eine empörte Debatte ein. Kaltenbachs Augenmerk gilt den Roma, die noch weit vor den 200.000 Ungarndeutschen die größte Minorität im Lande bilden – und die einzige Minderheit, die sich äußerlich und kulturell von der Mehrheit unterscheidet. Er hält die Strategie einer „Integration durch Segregation“ durch eigene Schulen wie das Gandhi-Gymnasium in Pécs für grundsätzlich richtig. Ebenso wichtig sei aber die Integration der Roma in das bestehende Schulsystem: Kaltenbach plädiert deshalb für eine Abschaffung der Sonderschulen und eine Reform des ungarischen Schulsystems.

Die Roma-Aktivistin Agnes Daroczi pflichtet ihm bei: „Was steht denn in ungarischen Schulbüchern über die Roma-Kultur?“, fragt sie rhetorisch. „Gar nichts!“ Den meisten Ungarn sei gar nicht bewusst, wie sehr die Roma ein Teil der ungarischen Gesellschaft seien: und das, obwohl in keinem anderen Land in Osteuropa die nationale Musik und Folklore so stark von Zigeunern geprägt sei wie in Ungarn.

Agnes Daroczi leitet das „Romaversitas Invisible College“ in Budapest, das Sprachkurse und Tutorenprogramme für junge Roma anbietet, um sie im Studium zu unterstützen. Die energische Dame gehört zu der kleinen Schicht von Roma-Intellektuellen, die sich für eine Verbesserung der Situation der Roma engagieren. Unterstützung erhalten Roma-Aktivisten wie sie durch die EU. Die Roma-Sprache Romanes wird von EU und OSZE inzwischen als offizielle Amtssprache anerkannt. Auch wenn das vor allem eine symbolische Geste ist – die meisten Roma-Funktionäre verständigen sich in anderen Sprachen –, so könnte das Engagement der EU doch zu einer späten Renaissance der Roma-Sprachen führen. Oder sie zumindest vor dem Aussterben bewahren, denn etwa in Ungarn verständigen sich nur noch ein Drittel aller Roma in den Zigeunersprachen Beasch und Romanes als Muttersprache, schätzt Agnes Daroczi: Die Mehrheit habe sie bereits verlernt.

Die Kultur der Roma sei eben noch immer keine Kultur der Schrift, sondern beruhe auf einer vorwiegend oralen Tradition, so Daroczi: Die Sprache, die Sitten und die Mythen der Zigeuner werden von den Eltern an ihre Kinder und Kindeskinder weitergegeben und nur am Gandhi-Gymnasium auch an einer Schule gelehrt. Dass die Roma stets über verschiedene Staaten verstreut lebten, hat überdies die Herausbildung einer Standardsprache, einer verbindlichen Grammatik oder gar einer verbindenden Literatur verhindert. Selbst Roma-Schriftsteller schreiben nur selten in ihrer eigentlichen Muttersprache, sondern meist in den Sprachen der jeweiligen Mehrheit. Mit der Verbesserung der sozialen Situation der Roma, so Daroczi, könne aber auch die Entstehung und Verbreitung einer eigenen Schriftkultur einhergehen.

Gelingt die Integration in Schulsystem und Arbeitswelt aber nicht, so droht sich eine ganz andere Entwicklung zu verschärfen: „Der Kommunismus nahm den Roma die Geige aus der Hand und gab ihnen die Schaufel“, lautete eine verbreitete Redensart in Osteuropa. Denn trotz aller sozialer Kosten, die mit der Sesshaftmachung und der Zwangsansiedlung in den Industriegebieten des einstigen Ostblocks verbunden waren, so hatten die Roma im Kommunismus doch immerhin Arbeit. Dass nach dem Zusammenbruch der Ostblock-Ökonomien dort nun wieder zur Geige gegriffen wird, hat nicht nur eine folkloristische Facette. Es ist auch ein Indiz für die Verödung und Entindustrialisierung ganzer Landstriche, welche die Roma wieder in traditionelle und schlecht bezahlte Tätigkeiten treibt und zuweilen bis in die Fußgängerzonen westlicher Großstädte.