EINE STETIG STEIGENDE PRODUKTIVITÄT IST REAKTIONÄR – UND KOSTET JOBS
: Der Aldi-Effekt

Seit nunmehr zwanzig Jahren warten wir darauf, dass Wachstum endlich wieder Arbeitsplätze schafft. Und werden jeden Monat aufs Neue eines Besseren belehrt: Unsere Arbeitslosigkeit ist allein durch Wirtschaftswachstum nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Das industrialistische Geschäftsmodell – steigende Produktivität, noch stärker steigendes Wachstum und damit irgendwie steigende Beschäftigung – funktioniert nicht mehr. Aber auch dem Alternativmodell haftet ein Geschmäckle an: Ein Sich-Bescheiden, ein Ende der Hatz nach immer weiter steigender Produktivität, klingt so unfortschrittlich, dass es schon reaktionär ist.

Dabei gibt es Wirtschaftsbereiche, in denen gerade eine stetig steigende Arbeitsproduktivität zu reaktionären Entwicklungen führt. Dazu gehören die meisten Dienstleistungsbranchen, denn hier wird höhere Produktivität schlicht mit höherer Kundenfeindlichkeit übersetzt. Nehmen wir als Beispiel den Einzelhandel: Die mit Abstand produktivsten Arbeitsplätze bieten dort Aldi und Ikea. Jene Unternehmen, die durch Service, Beratung und/oder längere Öffnungszeiten eine bessere Einkaufsqualität anbieten können, fallen weit dagegen ab. Hart zu sich selbst, wie die Deutschen es nun einmal sind, haben sie sich verboten, entspannt und gut gelaunt einzukaufen, und füllen lieber die Kassen von Ingvar Kamprad und den Gebrüdern Albrecht – hätte Max Weber das „protestantische Einkaufsethik“ genannt?

Am Ausmaß der Arbeitsteilung erkenne man den Entwicklungsstand einer Gesellschaft, konstatierte Karl Marx, und so betrachtet ist Ikea ein geradezu reaktionäres System; denn die Arbeitsteilung besteht nicht darin, dass jeder das tut, was er am besten beherrscht, sondern dass derjenige, der die Rechnung bezahlt, auch noch alles selber macht: Den größten Teil des Zeitaufwands, den Ikea-Möbel verursachen, wälzt das Unternehmen auf seine Kunden ab. Diese verwenden einen guten Teil der Freizeit, die ihnen durch die steigende Arbeitsproduktivität in der Industrie zugefallen ist, freiwillig darauf, mit Inbusschlüsseln bewaffnet Küchenoberschränke zusammenzuschrauben (oder an Aldi-Kassen Schlange zu stehen). Würden die Ikea-Kunden ihre für die Montage aufgewendete Zeit mit in den Kaufpreis einrechnen, erschiene das Möbelhaus tatsächlich als unmöglich: weil es zu diesen hohen Preisen nicht konkurrenzfähig wäre. Dafür würden viele, scheinbar geringer produktive Konkurrenten in der Kostenrechnung besser abschneiden. Die Produktivität der Erwerbsarbeit würde bei dieser Rechnung sinken – die gesellschaftliche Produktivität aber genauso steigen wie die Zahl der Arbeitsplätze. Wir müssten nur anfangen, so zu rechnen. DETLEF GÜRTLER