Verhöhnung der Demokratie

Die Europawahlen sind eine Farce. Denn noch immer bestimmt die Brüsseler Beamtendiktatur, was in der EU passiert – und nicht das Europäische Parlament

Ihre Macht nutzen die EU-Parlamentarier nicht, um die demokratischen Rechte der Wähler durchzusetzen

Die Parlamentarier traten voller guter Absichten an. Es galt, aus den bisher unabhängigen Ländern einen neuen Bundesstaat zu schmieden. Doch die Abgeordneten konnten weder Steuern erheben noch eine Bundesregierung einsetzen. Die Regierungen der Mitgliedstaaten ignorierten kurzerhand ihre Beschlüsse, und im hohen Hause machte sich der Frust breit. „Da wir alle einig sind, dass wir nichts tun und nichts tun wollen, wollen wir die Zeit nicht verschwenden“, empörte sich ein Radikaldemokrat. Und einer seiner Kollegen sprach es offen aus: „Sie sind zu schwach! Gehen Sie nach Hause!“

So scheiterte im Jahr 1848 in der Frankfurter Paulskirche der Versuch, die deutsche Einheit auf demokratischem Wege herzustellen. Gut anderthalb Jahrhunderte später droht einem weiteren demokratischen Großversuch das gleiche Schicksal. Wenn in diesen Tagen von Riga bis Lissabon das Europäische Parlament gewählt wird, dann werden voraussichtlich weit über die Hälfte der 350 Millionen Wahlbürger das Ereignis ignorieren – und das zu Recht. Denn die Umstände dieser Wahl sind eine Verhöhnung der demokratischen Idee.

Die Wahlfarce wird schon dadurch offenkundig, dass die vermeintlichen Demokraten sie selbst nicht ernst nehmen. Wie anders wäre zu erklären, dass die Spitzenkandidaten in ihren Parteien weniger Gewicht haben als jeder Bezirksvorsitzende. Wer ist eigentlich Gerd Pöttering? Wer Martin Schulz? Diese Frage können selbst viele Mitglieder von CDU und SPD nicht richtig beantworten. Oder weiß jemand, worin sich die Programme der Parteien unterscheiden? Im angeblichen Europawahlkampf der vergangenen Wochen war das nicht zu erfahren. Stattdessen missbrauchen die Spitzenpolitiker aller Parteien den EU-Wahlgang für einen nationalen Wahlkampf light, in dem schon mal die Parolen für kommende Landtagswahlen getestet werden.

Das entspringt jedoch nur der Einsicht in die tatsächliche Bedeutung des EU-Parlaments. Schließlich bleibt dem Wähler das erste demokratische Grundrecht verwehrt: Gleich wie unzufrieden er mit dem EU-Kurs ist, er kann die Verantwortlichen nicht abwählen. Und wer wird neuer Präsident der EU-Kommission? Darüber verlieren die Kandidaten kein Wort, wohl wissend, dass sie dazu auch gar nichts zu sagen haben. Bei der Wahl der EU-Kommission ist das Parlament nur Akklamationsorgan.

Schon recht, die Straßburger Abgeordneten können die Regeln des Binnenmarktes mitgestalten. Im Verbraucher- und Umweltschutz können sie Änderungen der EU-Gesetze durchsetzen. Und gewiss sind viele Abgeordnete mit großem Fleiß dabei. Der Vorwurf, sie seien faule Spesenritter, ist billiger Populismus. Gleichwohl ist es erbärmlich, wenn die Abgeordneten nun darauf verweisen, dass schon die Heerschar der Industrie-Lobbyisten in ihrem Parlament dessen gewachsene Bedeutung dokumentiere.

Man stelle sich vor, in Deutschland würde nicht der Bundestag, sondern der Bundesrat alle Gesetze beschließen. Die jeweiligen Ländervertreter wären jedoch nicht an die Weisungen der Parlamente gebunden. Ihre Verhandlungen würden hinter verschlossenen Türen stattfinden. Zumeist würde niemand erfahren, wer welche Position vertreten hat. Zudem würden alle Gesetzesvorlagen von einer zentralen Behörde geschrieben, die keiner direkten parlamentarischen Kontrolle unterliegt, sich dafür aber mangels Personal vielfach auf industrienahe Consulting-Firmen stützt. Nur Zyniker würden einem solchen System das Etikett „demokratisch“ zugestehen. Doch genau so findet Woche für Woche europäische Gesetzgebung statt.

Denn das zentrale Gesetzgebungsorgan der EU sind die Ministerräte, zusammengesetzt aus Ministerialbeamten der Mitgliedsländer und formal angeführt von zumeist ahnungslosen Ministern. Über 90 Prozent aller Entscheidungen fallen bereits im „Coreper“, dem bei den Wählern gänzlich unbekannten „Rat der ständigen Vertreter“. Ergebnis dieser Hinterzimmergesetzgebung sind dann jene Richtlinien, die als geltendes europäisches Recht von nationalen Parlamenten nur noch „umgesetzt“ werden. De facto schreibt sich so die Exekutive ihre Gesetze selbst. Jeder Staat, der so verfasst wäre wie die Union, könnte niemals deren Mitglied werden.

So spricht die Realität allem Geschwafel über die gewachsene Macht des Parlaments Hohn. Noch immer können die Abgeordneten keine eigenen Gesetze verabschieden. Noch immer bestimmt allein die Brüsseler Beamtendiktatur, dass die Hälfte des EU-Budgets verschwendet wird, um die Nahrungsmittelindustrie zu subventionieren. Nach wie vor blockieren nationale Zampanos eine EU-Steuergesetzgebung, die den destruktiven Steuersenkungswettlauf beenden könnte.

Bei all dem ist den EU-Parlamentariern nicht vorzuwerfen, dass sie nicht über genügend formale Macht verfügen. Viel schwerer wiegt, dass sie ihre Macht nicht nutzen, um die demokratischen Rechte ihrer Wähler durchzusetzen. Längst hätten sie die Brüsseler Räteherrschaft brechen können, wenn sie gestützt auf ihre Millionen von Wählerstimmen die volle Öffentlichkeit aller Ratssitzungen durch einfache Begehungen erzwungen hätten. Warum blockieren Sie nicht alle Ausgaben, bis ihnen die Entscheidungsrechte über den Agrarwahnsinn zugestanden werden?

Die Wähler hätten sie gewiss auf ihrer Seite. Doch die Straßburger Scheindemokraten laufen am Gängelband ihrer heimischen Parteiführer, von deren Gnade ihre Listenplatzierung abhängt. Die nationalen Machtnetzwerker aber haben kein Interesse an einer starken EU-Demokratie, denn das würde ihre Bedeutung drastisch beschränken.

Egal wie unzufrieden die Wähler mit dem EU-Kurs sind, die Verantwortlichen können sie nicht abwählen

Zugegeben, es gibt keine europäische Demokratiebewegung, auf die sich der Aufbruch stützen könnte. Gerade deshalb wäre es eben die vornehmste Aufgabe der EU-Parlamentarier, eine solche Bewegung ins Leben zu rufen. Die Debatte über den anstehenden Verfassungsvertrag hätte dafür die ideale Gelegenheit geboten. Doch anstatt das Wahlvolk für ihre Sache zu mobilisieren und den Dauerskandal der Brüsseler Aufhebung der Gewaltenteilung zum Thema zu machen, verstrickten sich die Abgeordneten im Verfassungskonvent einmal mehr ins Fingerhakeln mit den von den Regierungen entsandten Technokraten.

Gewiss wäre ein Großkonflikt über die EU-Verfassung mit erheblichen Risiken für die Akteure verbunden. Doch Demokratie wird eben nicht verschenkt, sondern allenfalls erkämpft. Wenn der britische Premier Tony Blair jetzt sein politisches Schicksal an ein Referendum zur EU-Verfassung knüpft, beweist er jedenfalls mehr demokratischen Mut als alle EU-Parlamentarier zusammen. Der Paulskirchenabgeordnete Franz Schuselka hielt einst seinen Kollegen vor, „dass wir ein Scheinwerk vollbringen, dass wir nicht selbstständig sind, sondern dass wir durch diplomatische Fäden von geheimen Vor- und Nachverhandlungen missbraucht werden“. Das gilt auch für die EU- Parlamentarier, darum verdienen sie das Wählervotum nicht.

HARALD SCHUMANN