Rot und Grün tauschen die Rollen

Am Tag nach der Europawahl: Bei der GAL sehen sich manche schon als neue Volkspartei, während die SPD ihre Wunden leckt. Statistische Analyse: Grüne Gewinne vor allem wegen niedriger Wahlbeteiligung, Wählerwanderungen nicht nachweisbar

von PETER AHRENS
und GERNOT KNÖDLER

Für die Wahlsieger war es klar, woran es lag: „Wir sind einfach die Europapartei dieser Republik“, macht der stellvertretende GAL-Fraktionschef Willfried Maier als Grund für das 24-Prozent-Ergebnis der Grünen bei den Europawahlen aus. Was bei einigen in der Partei zu rosigsten Prophezeiungen führt: „In einigen Stadtteilen sind wir schon Volkspartei“, glaubt Maiers Vorstandskollege Christian Maaß. Tatsächlich ist die GAL in den Bezirken Eimsbüttel, Altona und Nord teilweise deutlich vor den Sozialdemokraten auf Platz zwei eingelaufen. Da muss Fraktionschefin Christa Goetsch schon auf die Euphoriebremse treten: „Jetzt nur keine Hybris. Wir sehen das ganz realistisch.“

Wählerwanderungen von SPD zu GAL sind bei der Analyse der Wahl vom Sonntag schwer auszumachen. Ein Vergleich mit der jüngsten Bürgerschaftswahl sei sinnlos, weil an der Europawahl 417.000 Menschen weniger teilgenommen hätten, sagte Wolfgang Bick vom Statistischen Amt. Es gebe kein seriöses Rechenmodell, das diesen Effekt kompensieren könne.

Auch die im Vergleich zur Europawahl 1999 rund zwölf Prozent mehr für die GAL und zwölf Prozent weniger für die SPD seien kein Hinweis auf eine solche Wanderung. Vielmehr relativierten sie das Ergebnis der GAL. Diese konnte mit 103.400 Wählern 2.200 mehr Menschen für sich mobilisieren als bei der Bürgerschaftswahl. SPD und CDU schöpften dagegen ihre Wählerpotenziale bei weitem nicht aus. Sie erhielten lediglich 42 und 40 Prozent ihrer Stimmen bei der Bürgerschaftswahl. Die FDP mobilisierte ihr Potenzial voll und schaffte so den Sprung über die Fünfprozenthürde.

Der parallel stattfindende Volksentscheid kann, so Bick, nicht für die hohe Wählermobilisierung der GAL verantwortlich gemacht werden. Das zeige der Vergleich mit anderen Großstädten, wo die Grünen ebenfalls Spitzenresultate erzielten. Bei den unter 45-Jährigen wurde die GAL erstmals mit Abstand stärkste Partei mit dem Spitzenwert von 41 Prozent bei den 35- bis 44-Jährigen. Bei den 45- bis 59-Jährigen lag sie hinter der CDU auf Rang zwei.

Dass die GAL die SPD dereinst beerben könne, das ist auch den führenden Grünen der Fraktion kein geheurer Gedanke. Maier macht sich „schon ein bisschen Sorgen um die SPD“. Die Partei sei schließlich „immer ein Fundament der Demokratie gewesen“. Angesichts der vergangenen Wahlen sieht er nun einen tief greifenden Wandel: „Da bricht etwas auseinander, was jahrzehntelang gehalten hat.“ Es klingt ein wenig wie ein Nachruf.

Tot ist die SPD noch nicht, aber totenstill war sie nach dem erneuten Wahldebakel von nur noch 25,7 Prozent gestern schon und zuvörderst mit dem Lecken von Wunden beschäftigt. Fraktionschef Michael Neumann sah zwar keinen Anlass, „das Resultat schönzureden“, aber mit seinen Beteuerungen vom Wahlabend, das Resultat zeige, dass die CDU keine Mehrheit mehr in der Stadt habe, tat er es dennoch. Nur 21,6 Prozent in Altona, 23,2 Prozent in Eimsbüttel sind für die Hamburger Sozialdemokraten historische Tiefstände.

Aber auch die CDU hatte gestern wenig Grund zum Triumph. Nicht nur, dass sie gemeinsam mit der SPD beim Volksentscheid fürs Wahlrecht klar den Kürzeren zog, auch das Europawahlergebnis von letztlich 36,8 Prozent lag deutlich unter den Erwartungen. Spitzenkandidat Georg Jarzembowski erfuhr immerhin am frühen gestrigen Morgen, dass sein Resultat gerade mal ausreichte, um wieder als Abgeordneter ins EU-Parlament zu kommen.