Zwischen den Rillen
: Zerbrochene Kontaktlinsen

Wenn Techno zu sehr rockt: Alter Ego sorgen für die richtige Abfahrt, Monne Automne für die Schwermut danach

Im Club geht es manchmal zu wie im echten Leben: nicht immer ist es einfach, die richtige Abfahrt zu erwischen. Was dem einen zu stumpf ist, ist dem anderen nicht stumpf genug. Gerade um den Einsatz von E-Gitarren im Techno- und Housekontext gab es unter Clubgängern so manche Debatte. Während ein Großteil schlicht genervt war von asymmetrischen Frisuren, schwarzen H&M-Nietengürteln und anderen ästhetisch fragwürdigen Begleiterscheinungen des Electroclash-Hypes, sahen die Gralshüter der reinen Dance-Lehre gleich das gesamte Black-Music-Erbe bedroht: AC/DC anstelle des Salsoul Orchestras zu sampeln erschien den Puristen mehr als nur verdächtig: War nicht gerade die Clubkultur angetreten, um der Hegemonie weißer, heterosexueller Bierbauch-Rockisten ein für alle Mal eine Ende zu bereiten?

Fragen, die spätestens Anfang dieses Jahres keine Rolle mehr spielten. Ein paar Takte genügten, und man war sich über fast alle Gräben hinweg einig: Hauptsache, es rockt. Und das tat „Rocker“, die erste Single des neuen Alter-Ego-Albums „Transphormer“, tatsächlich so hart und ausdauernd, dass die Begeisterung der Tänzer keine Grenzen kannte. Der Trick daran: Der Stadionrock-Effekt, mit dem sich die wunderbar stumpfe Melodie schon nach wenigen Sekunden säureartig ins Langzeitgedächtnis ätzte, kam ganz ohne E-Gitarren zustande. Alter Ego zogen es vor, eine simple Synthie-Line so lange kaputtzufiltern, bis ihre effekthascherische Durchschlagskraft jedes Angus-Young-Solo in den Schatten stellte.

Auf „Transphormer“ zeigen Roman Flügel und Jörn Eling Wuttke nun, dass sie Profis genug sind, ihren sehr speziellen Techno-Rockentwurf auch auf Albumlänge zu deklinieren. Über das Standard-Dilemma vieler Techno- und House-Produzenten, auf langer Strecke einzubrechen, zeigen sich die beiden schon seit Mitte der Neunziger erhaben – einer Zeit, in der sie als Sensorama zu Elektronik-Lieblingen der Spex avancierten. Zehn Jahre später käme nun niemand mehr auf die Idee, ihre Musik als Hornbrillen-House oder Diskurs-Techno zu bezeichnen. Transphormer ist, um im Bild zu bleiben, Kontaktlinsen-Metal auf der technischen Höhe seiner Zeit, den die Herren zu Recht zwischen Testosteron-Klassikern wie Motörhead und Metallica eingeordnet wissen wollen. Kurz: die richtige Abfahrt.

Da eine vernünftige Clubnacht in Zeiten der großen Techno-Renaissance wieder mindestens zwölf Stunden dauert und auch Menschen ohne Herzklappenfehler auf Dauer vom Energielevel des aktuellen Alter-Ego-Sounds überfordert sein dürften, ist es gut, dass es Künstler wie Luciano gibt. Der in der Schweiz lebende Chilene hat sich fast über Nacht zu einem Superstar der späten Stunden entwickelt, hält sein Sound doch exakt die Waage zwischen südamerikanischer Percussivität und einer zutiefst melancholischen Psychedelik, wie sie ebenso weichgeklopfte wie wachgeschnupfte Tänzer gegen Mittag zu schätzen wissen.

Da Luciano niemals zu schlafen scheint, legt er kaum vier Monate nach seiner Debüt-LP „Blind Behaviour“ schon wieder nach: Gemeinsam mit Pier Bucci und Argenis Brito veröffentlicht er dieser Tage als Monne Automne das wunderbare Album „Introducing Light and Sound“. Das Licht, das sie meinen, ist mild und gebrochen, der Sound verspielt und introvertiert. Wo Alter Ego frei und ohne Scheu vor Offensichtlichem aufspielen, sind Monne Automne an der Schwermut des Abseitigen interessiert.

Eine Kreuzung, zwei Abfahrten, beide richtig. Kommt nur drauf an, wohin man will.

CORNELIUS TITTEL

Alter Ego: „Transphormer“ (Klang/Neuton), Monne Automne „Introducing Light and Sound“ (LoFi-Stereo/Neuton)