Tschüss, Neoliberalismus

Kurswechsel in der Ökonomie: Mit Geld darf wieder Politik gemacht werden. Nur hierzulande findet die neue Schule kein Gehör

Der neue „Interventionismus“ hält nichts mehr von harter SparpolitikDie Chance, Keynes wieder mehr Gehör zu verschaffen, hat Rot-Grün gerade verpasst

AUS BERLIN HANNES KOCH
UND MICHAELA KRAUSE

Obwohl Horst Köhler einige Jahre in den USA verbracht hat, scheint er dort etwas verpasst zu haben. In seinem neuen Buch empfiehlt der künftige Bundespräsident der deutschen Politik, sich der Konzepte der ehemaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher zu erinnern. Über die damaligen Ideen sind Politik und Wissenschaft mittlerweile jedoch hinaus.

Die Hegemonie des Neoliberalismus ist vorbei. Diese Botschaft allerdings scheint in Deutschland bislang vielerorts nicht angekommen zu sein. So entlässt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin gerade seinen Konjunktur-Chef Gustav Adolf Horn, der sich dem konservativen Mainstream über Jahre entgegengestellt hat.

Doch die bisher dominierenden Theorien der Neoklassik und des Monetarismus büßen ihre Vorherrschaft langsam ein. Ein neuer „Interventionismus“ ist im Kommen. Ein Indiz dafür ist nicht nur, dass US-Präsident George W. Bush den Harvard-Professor Gregory Mankiw im vergangenen Jahr zum ökonomischen Chefberater berufen hat. Mankiw gilt als Neu-Keynesianer: Er leitet seine Thesen zum Teil von der Lehre des britischen Ökonomen John Maynard Keynes ab, die die Neoklassiker in den 1970er-Jahren heftig bekämpften. In Deutschland hat kürzlich das Kieler Institut für Weltwirtschaft, bisher ein Hort der Neoklassik, Dennis Snower als neuen Chef eingesetzt. Der Londoner Ökonom lehnt zentrale neoklassische Thesen ab.

Die Weiterentwicklung der Wirtschaftswissenschaft geht einher mit den Erfahrungen der USA seit den 90er-Jahren. Die US-Politik machte damals so ziemlich alles falsch, was in den Augen der Neoklassiker und der Monetaristen falsch machen konnte. So senkte Alan Greenspan, Chef der US-Notenbank, die Zinsen nach dem Börsencrash von 2001 massiv, um die Wirtschaft mit zusätzlichem Geld zu unterstützen. Und siehe da: Es funktionierte. Der Abschwung hielt sich in Grenzen, die Inflation schoss nicht ins Kraut.

Die Möglichkeit einer derartigen Politik hatten die Vertreter der neoklassischen Theorie mehr oder weniger abgestritten. Seit Ende der 60er-Jahre argumentierten US-Ökonomen wie Milton Friedman und seine Mitstreiter, die Erhöhung der Geldmenge durch die Zentralbanken hätten keine positiven wirtschaftlichen Effekte, sie brächten stattdessen ausschließlich die Inflation in Schwung. Unternehmen und Beschäftigten würden auf die Erhöhung der Geldmenge mit einer ebenso starken Anhebung der Warenpreise und Lohnforderungen reagieren, sagten sie und stützten sich dabei auf die in den 70er-Jahren entwickelten Theorie der „rationalen Erwartungen“. Damit wachse weder das Bruttoinlandsprodukt, noch nehme die Arbeitslosigkeit ab – nur die Geldentwertung steige, erläuterten neoklassischen Ökonomen. Ihre wirtschaftspolitische Empfehlung: Zentralbank und Staat könnten die Arbeitslosigkeit mit den Mitteln der Geld- und Fiskalpolitik sowieso nicht reduzieren, also sollten sie es gar nicht erst versuchen.

In den wissenschaftlichen Debatten der vergangenen zehn Jahre sei dagegen „so etwas wie ein Trendwechsel festzustellen“, sagt Kenneth Rogoff, der frühere Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds (IWF). Und der neue Kiel-Chef Dennis Snower schreibt in einem theoretischen Aufsatz: „Wir zeigen, dass eine permanente Steigerung der Geldmenge zu einer dauernden Anhebung der Inflationsrate und einer anhaltenden Verringerung der Arbeitslosigkeit führt.“

Doch Keynes pur ist damit nicht zurückgekehrt. Die so genannten Neu-Keynesianer haben seiner Theorie aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur mit neoklassischen Überlegungen kombiniert und durch neue Forschungen weiterentwickelt. Sie widersprechen den Neoklassikern zum Beispiel deutlich in dem Punkt, wie die Wirtschaftssubjekte auf die Erhöhung der Geldmenge reagieren. Unternehmen und Beschäftigte würden ihre Preise nicht sofort im gleichen Maße erhöhen, wie die Geldmenge wachse. Ein Argument der Neo-Keynesianer: Sie könnten höhere Preise nicht unmittelbar durchsetzen, weil zum Beispiel die nächsten Tarifverhandlungen erst in einem Jahr stattfänden. Trotz der grundsätzlichen Rationalität ihrer Erwartungen für die Zukunft – es regiert weiter die Annahme vom Homo oeconomicus – würden die Wirtschaftssubjekte außerdem nicht immer über alle notwendigen Informationen verfügen. So könnten sie die für sie profitabelste Preissteigerung nicht vollständig voraussehen. Deshalb, so argumentiert Dennis Snower, würden die Preissteigerungen der Zunahme der Geldmenge hinterherhinken. Der Effekt: Ein Teil des zusätzlichen Geldes treibe nicht die Inflation voran, sondern erhöhe über vermehrte Nachfrage das Bruttoinlandsprodukt, was wiederum die Erwerbslosigkeit reduzieren könne. Die Schule der Interventionisten sieht damit bessere Möglichkeiten der Zentralbank und des Staates, die nachteiligen Auswirkungen von Konjunkturkrisen zu dämpfen.

Auch in der Politik ist dieser Wechsel langsam zu spüren. Selbst im Umkreis der Europäischen Zentralbank ist mittlerweile eine Diskussion über den Sinngehalt der harten Sparpolitik und des Stabilitätspaktes in Gang gekommen. Gesucht wird ein Ausweg, der den Staaten der EU einen größeren finanziellen Spielraum eröffnet, um konjunkturelle Schwächeperioden nicht durch eine rigide Sparpolitik zu verschärfen.

Auch die Bundesregierung hatte gerade die Chance, der modernen Wirtschaftswissenschaft in Deutschland mehr Gehör zu verschaffen. Doch man hat die Gelegenheit verpasst. Als neues Mitglied in den Sachverständigenrat für Wirtschaft rückt keine Vertreterin der neuen Richtung ein, sondern die politisch undefinierbare Karriere-Ökonomin Beatrice Weder di Mauro.

Portrait Seite 12