Salz in die offene Wunde

Kaum ist der Skandal um den „New York Times“-Reporter Jayson Blair ausgestanden, erregt der Roman eines anderen Fälschers die Gemüter: „The Fabulist“ sei schlimmer als „Mein Kampf“

von MARCO STAHLHUT

Kaum hat sich die Aufregung um den Fälschungsskandal der New York Times halbwegs gelegt, gibt in den USA ausgerechnet ein Romandebüt Anlass zur kollegialen journalistischen Empörung. Dabei nimmt Stephen Glass’ „The Fabulist“ den Times-Skandal in gewisser Weise sogar vorweg. Niemand anderes als die New York Times nämlich wird in dem Buch ironisch als „Gold-Standard“ der journalistischen Verifikation bezeichnet: „If it was printed in the Times, it was accepted by the Weekly, absent overwhelming evidence to the contrary. It did not matter that the Times does not itself regularly employ fact checkers.“ Das in letzterem Punkt angesprochene Problem trat durch den Jayson-Blair-Skandal dann ja auch überdeutlich hervor.

Für seine zielsichere Beobachtung wird Glass’ Roman nun allerdings nicht gelobt, sondern mit Verve verrissen. Freilich ist es nicht Neid auf Glass’ Vorsehungsgabe, die die amerikanischen Medien so säuerlich auf sein literarisches Debüt reagieren lässt. Vielmehr ist es die Vergangenheit des Autors selbst. Stephen Glass ist nämlich so etwas wie der Jayson Blair der Neunzigerjahre. Er flog 1998 auf, nachdem er in dem angesehenen Magazin The New Republic gleich eine ganze Reihe von Artikeln veröffentlicht hatte, deren Wahrheitsgehalt zweifelhaft bis schlichtweg nicht vorhanden war. Eine handelte von einer Kirchengemeinde, die George Herbert Walker „Christ“ Bush als Gott anbetet.

Im Geschrei über Glass’ Debüt nun zeichnen sich die rechtskonservativen Medien durch besondere Geschmacklosigkeit aus. So schrieb John L. Miller in der Online-Ausgabe der National Review, dass er sein Rezensionsexemplar am liebsten verbrennen würde. Nicht ohne hinzuzufügen, dass er diesen Impuls keineswegs verspürt habe, als er in einer Ausstellung Hitlers „Mein Kampf“ in den Händen hielt.

Solch fröhlich eingestandene Unverhältnismäßigkeit lässt fragen, was den Hass anlässlich der Veröffentlichung eines mittelmäßigen, aber keineswegs uninteressanten Romans auslöst. Immerhin behandelt die amerikanische Literaturkritik ihren Gegenstand gemeinhin mit Samthandschuhen, zumal wenn es sich um Debüts handelt.

Wie erklärt sich dann also der Hass? Nun, die Vergangenheit von Stephen Glass wurde ja bereits angesprochen. Und man muss nicht pathetisch werden, um zu konstatieren, dass Glass’ Vorgehen in den Neunzigerjahren einen Angriff auf den Journalismus selbst darstellte: Er kann nur auf der Grundlage einer Vertrauensbasis zwischen Schreiber und Leser funktionieren. Die Leser müssen davon ausgehen dürfen, dass stimmt, was sie lesen. Ein Journalist, der seine Redakteure und Leser deart dreist belügt, wie Glass es getan hat, provoziert einen Ausstoß aus seiner sozialen Kaste so sehr, wie er den tatsächlich erfolgenden dann auch verdient.

25 Jahre und erledigt

Andererseits stellt ein Roman, auch Glass’ „The Fabulist“, kein indirektes Bewerbungsschreiben auf einen einflussreichen Posten im journalistischen Betrieb dar. Und zumindest seine liberalen Exkollegen müssten auch einem Glass die Chance zum sozialen Wiedereinstieg zugestehen. Beiläufig angemerkt sei, dass Glass zum Zeitpunkt seines Karriere-Endes erst 25 war, in einem Alter also, in dem deutsche Studenten gerade beginnen, sich langsam auf den Abschluss vorzubereiten.

Woher dann also die immense Aversion? Obwohl es sich bei „The Fabulist“ erklärtermaßen um einen Roman handelt, ist der autobiografische Kontext nicht nur unverkennbar, er macht auch den größten Anreiz aus, das Buch zu lesen. Aus der Ich-Perspektive wird die Geschichte eines jungen Journalisten erzählt, dessen Karriere nach einem Fälschungsskandal einen jähen Absturz nimmt. Beziehungen zur eigenen Lebensgeschichte werden von Glass weniger verdeckt als unterstrichen: Alle Figuren haben fiktive Namen – bis auf den Ich-Erzähler: Der trägt den subtil gewählten Namen Stephen Glass. Hinter der Washington Weekly bleibt leicht der Arbeitgeber des realen Glass zu erkennen, die New Republic. Und so weiter, und so fort. Wie der New Yorker schrieb, treibt Glass sein altes Spiel also unter umgekehrten Vorzeichen weiter: Von fiktionaler Nichtfiktion zu nichtfiktionaler Fiktion. Es versteht sich, dass unter diesen Umständen die von Glass im Buch vorgebrachten Schuldbekenntnissse nicht wirklich überzeugen können – sind sie in fiktionale Anführungszeichen gesetzt.

Idealer Sündenbock

Dennoch trägt der Hass auf Glass alle Anzeichen dafür, dass man einen Sündenbock sucht: Dass er persönlich gefehlt hat, ist offensichtlich. Aber ein System, das Geschichten abdruckt, die so deutlich gefälscht sind wie manche von Glass, hat offensichtlich ein größeres Problem als die fehlende Berufsmoral einzelner Beteiligter. Glass’ Fehltritt kann durchaus auch als Symptom eines Magazinjournalismus gelesen werden, der Stil und Sensation über Substanz stellt.

Von ferne schließlich leuchtet noch das Paar Blair/Bush. Dient die forcierte Empörung über Blair/Glass nicht vielleicht auch dazu, der angekratzten Ehre des US-Journalismus über die Hofierung des anderen lügnerischen Doppels Blair/Bush hinwegzuhelfen? Das Zusammenspiel von Fake und Hype geht derweil weiter. Jayson Blair hat schon eine Agentur beauftragt, ihm einen Buchvertrag zu organisieren. Und im Herbst kommt in den Staaten der Film zum Glass-Skandal heraus. Voraussichtlicher Titel: „Shattered Glass“. Gespielt wird der unattraktive Moppel Glass von dem „Star Wars“-Cutie Hayden Christensen.

Aktuelle Artikel zu Glass im Washington Monthly (Ausgabe Juli/August) und American Reporter (1. Juli). Stephen Glass, „The Fabulist“, Simon & Schuster 2003, 339 Seiten, 24 Dollar