Behörden machen hunderte obdachlos

Jesuiten-Flüchtlingsdienst erhebt schwere Vorwürfe gegen Sozialbehörden: Hunderte Abschiebehäftlinge müssten auf der Straße leben, weil zuständige Stellen Hilfe verweigern. Bezirksamt Mitte nennt Vorwürfe „weitgehend substanzlos“

VON PETER NOWAK

Berliner Sozialbehörden verweigern offenbar hunderten entlassenen Abschiebehäftlingen jegliche Hilfeleistung – wohl wissend, dass die Betroffenen jahrelang ohne Krankenversicherung auf der Straße schlafen und ihr Essen notfalls erbetteln müssen. Dies geht aus einem Schreiben des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes an Günter Piening, den Migrationsbeauftragten des Landes, hervor, das der taz vorliegt.

Einer davon ist der russische Staatsbürger B.: „Bei Freunden kann ich mich nie länger aufhalten, weil sie sonst Ärger mit den Hausmeistern bekämen. Essen und Trinken bekomme ich von der Bahnhofsmission im Bahnhof Zoologischer Garten“, schilderte er sein Leben in Berlin – mittlerweile ist er beim Flüchtlingsdienst untergebracht. Das Bezirksamt Mitte gewährt ihm keinerlei Hilfe nach dem Asylbewerberleistungsgesetz – weder Geld noch Unterkunft.

Paragraf 1 a liefert den Ämtern die Argumentation: Er erlaubt, Leistungen zu kürzen, wenn bei Betroffenen „aus von ihnen zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können“. Wer nur in Deutschland ist, „um Leistungen nach diesem Gesetz zu erlangen“, dessen Versorgung darf beschnitten werden.

Der Absatz, der Abzocke verhindern soll, wird laut Dieter Müller, dem Leiter des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes, regelmäßig vorgeschoben: „Die Ämter unterstellen, dass die Leute ihre Pässe vernichtet oder versteckt haben.“ Die Vorhaltungen seien oft „vage und ohne Substanz“.

Für die Betroffenen beginnt eine manchmal Jahre andauernde Existenz in faktischer Rechtlosigkeit: Gerade aus der Haft entlassen, haben sie nur eine Bescheinigung des Polizeipräsidenten in der Tasche. Bis das Landeseinwohneramt die Duldung ausstellt, dauert es manchmal bis zu zwei Wochen. Ist für die Betroffenen diese kurze Zeit noch zu überbrücken, etwa indem Freunde aushelfen, verweigern gerade die Sozialämter Mitte und Reinickendorf gern trotz gestempelter Duldung jegliche Leistung: „Die kürzen oft alles auf null“, sagt Müller.

Auch wenn ihm eine Statistik fehlt, schätzt er die Zahl der quasi Entrechteten in der Hauptstadt auf mehrere hundert. Und ständig kommen neue hinzu: „Jährlich werden 2.000 Menschen aus der Abschiebehaft entlassen. Wenn – optimistisch geschätzt – nur 5 Prozent keine Leistungen bekommen, müssen pro Jahr 100 auf die Straße.“

Der Russe B. ist also bei weitem kein Einzelfall. Um die Menschen vor der Obdachlosigkeit zu bewahren, beherbergt der Flüchtlingsdienst in seinem Büro seit mehreren Monaten neben B. noch einen weiteren Flüchtling mit Duldungsstatus. Es ist der sierra-leonische Staatsbürger I. Seit etwa sechs Monaten verweigert ihm das Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf Leistungen. Er legte Widerspruch ein, das Amt lehnte ab. Die Begründung: Seine Identität sei ungeklärt, da er keinen Pass vorweise.

Der Migrationsbeauftragte des Landes, Günter Piening, will sich der Missstände annehmen und mit den Ämtern verhandeln, kündigte er gegenüber der taz an. Voraussetzung sei jedoch, dass er detaillierte Einsicht in die Einzelfälle bekäme. „Die Flüchtlinge sollten sich direkt an mich wenden.“ Dass er Gehör finden wird, darf angezweifelt werden: Ein Sprecher der Asylbewerberleistungsstelle Mitte bezeichnet die Vorwürfe auf Anfrage als „weitgehend substanzlos“. Aus datenschutzrechtlichen Gründen könne man keine weiteren Auskünfte geben.

Auch der Flüchtlingsdienst wartet bis heute vergeblich auf eine Stellungnahme der Behörden: „Vom Bezirksamt Mitte gab es überhaupt keine Reaktion auf unsere Schreiben“, sagt Müller.