Von Exponat zu Exponat

Die neue Dauerausstellung im Deutschen Hygiene-Museum wendet sich ab von spektakulärer Szeneografie – dezentes Lay-out und Retro-Elemente bestimmen die Ausstellungsarchitektur

VON ROBERT HODONYI

In seinem Buch „Der Ursprung des Museums“ (1986) vertritt Krzysztof Pomian die Auffassung, museale Einrichtungen seien in erster Linie durch Permanenz gekennzeichnet und führten alles in allem ein eher „ruhiges Leben“. Für das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden scheint diese Feststellung nicht zu gelten. Wie bei keiner zweiten Institution hierzulande spiegelt die 90-jährige Geschichte des Hauses den steten Wandel von Wissenschaftskonzepten, Menschenbild und Ausstellungspraxis.

Die Historie ist weitgehend bekannt: Schon während des Kaiserreichs konzipiert und in den Jahren 1927 bis 1930 von dem Architekten Wilhelm Kreis im Stil der Neuen Sachlichkeit errichtet, avancierte das Museum in der Weimarer Republik zum Aufklärungstempel in Gesundheitsfragen schlechthin. So galt die Devise, die der Spiritus Rector des Hauses, der Odol-Fabrikant und Kulturmäzen Karl August Lingner (1861–1916), schon 1912 in seiner „Denkschrift zur Errichtung eines National-Hygiene-Museums“ formuliert hatte, auch zu Weimarer Zeiten: „Das Hygiene-Museum soll eine Stätte der Belehrung sein für die ganze Bevölkerung, in der jedermann sich durch Anschauung Kenntnisse erwerben kann, die ihn zu einer vernünftigen und gesundheitsfördernden Lebensführung befähigen.“ Der Blick war auf den einzelnen Menschen gerichtet, auf seinen Körper mit seinen Funktionen, Organen und Anfälligkeiten. Zum Symbol des Hauses wurde der vom Präparator Franz Tschakert Ende der 20er-Jahre geschaffene „Gläserne Mensch“, die materialisierte Hoffnung des modernen Individuums auf Berechenbarkeit und Durchschaubarkeit des eigenen Körpers.

Die Jahre 1933 bis 1945 gehören zu den dunkelsten Kapiteln des Hauses. Man durfte gespannt sein, wie die neue Dauerausstellung die eigene Rolle im Nationalsozialismus reflektieren würde. Diese Zeit, so war in der lokalen und überregionalen Presse immer wieder zu lesen, werde seitens des Museums auch in der neuen Dauerausstellung aufgearbeitet und umfassend beleuchtet. In der aktuellen Selbstdarstellung, etwa dem vorläufigen Katalog oder auf der Homepage des Museums, heißt es diesbezüglich: „Nach 1933 wurde das volksaufklärerische Gedankengut des Museums und seine hoch entwickelten modernen Vermittlungsmethoden in den Dienst der nationalsozialistischen Rasseideologie gestellt.“ Das ist einer der wenigen Sätze, die sich überhaupt zum Thema finden. Bei genauem Hinsehen ist auch er nicht ganz richtig. In der Dauerausstellung selbst wird etwas ausführlicher auf die Zeit nach 1933 eingegangen, indem man etwa auflistet, welche NS-Institutionen sich im Museum einmieteten, und andeutet, welche Ausstellungen nach 1933 hier stattfanden. Es wird ebenfalls signalisiert, dass eugenisches Denken schon vor 1933 in Kampagnen des Hygiene-Museums gegen Epidemien, Kriminalität und Alkoholismus eine gewisse Rolle spielte. Doch erst im „Dritten Reich“ sei die Propagierung der nationalsozialistischen Rassenlehre zum vorherrschenden Zweck des Hauses geworden.

Frühe Rassenhygiene

Vergessen wird dabei einerseits die enge Verflechtung mit der völkischen Bewegung schon vor 1933, und andererseits beschreibt man damit die Funktion des Hygiene-Museums zwischen 1933 und 1945 nur unzureichend. Denn nach der Machtergreifung entwickelte sich das Hygiene-Museum in kürzester Zeit zur führenden Propaganda-Institution des Dritten Reichs auf dem Gebiet der „Rassenhygiene“, des Sozialdarwinismus sowie bei der Forcierung des biologisch-organizistischen Menschenbildes. Die fortschrittlichen bürgerlichen Sozialhygieniker wie Rudolf Neubert, Adolf Thiele oder Martin Vogel mussten das Haus verlassen, ebenso alle jüdischen Mitarbeiter, darunter Marta Fraenkel, Walter Weisbach und Eugen Galewsky. „Die politisch hochkarätige Namensliste des neu eingesetzten Ehrenpräsidiums belegt, dass das Hygiene-Museum für die Nationalsozialisten nicht irgendeine zu vernachlässigende Größe im öffentlichen Gesundheitswesen war: Hermann Göring, Dr. Joseph Goebbels, Dr. Wilhelm Frick, Rudolf Heß, Dr. Robert Ley, Martin Mutschmann u. a. sorgten für die Schirmherrschaft während der kommenden ,tausend Jahre‘ “, schreibt der Historiker Peter Fäßler in dem Sammelband „Dresden unterm Hakenkreuz“ (1998).

Erste Spuren für den rassenhygienischen Diskurs lassen sich dabei bis zur II. Internationalen Hygiene-Ausstellung 1930/31 zurückverfolgen. Bereits bei dieser Schau fand eine wissenschaftlich und gesellschaftspolitisch brisante Verbindung von Sozial- und Rassenhygiene statt, zahlreiche Beiträge des Begleitbandes der Ausstellung enthalten rassistisch gefärbtes Gedankengut. Das war kein Wunder, saßen doch im Fachbeirat der Ausstellung mit Ernst Rüdin und Otmar Freiherr von Verschuer zwei ausgewiesene Protagonisten einer wissenschaftlich vertretenen Rassenlehre. Völkische Gruppen und Verbände wie der „Sudetendeutsche Heimatbund“, der „Reichsausschuß für Volksentartung“ oder die „Reichszentrale für Heimatdienst“ hielten hier Tagungen und Kongresse ab. Indem das Hygiene-Museum schon vor 1933 seinen Millionen Besuchern in überwiegend von gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgehenden Expositionen nebenbei rassenhygienische Auffassungen vermittelte, half es zweifellos den Boden zu bereiten, der das Eindringen des Rassegedankens besonders bei Beamten, Lehrern und Ärzten förderte und der sich nach 1933 voll entfalten konnte. Es kann also keine Rede davon sein, dass die nationalsozialistische Ideologie aus heiterem Himmel über das Hygiene-Museum hereingebrochen ist.

Sieg des Sozialismus

Nach 1945 bis weit in die Sechzigerjahre hinein knüpfte man an das Erziehungskonzept der Weimarer Republik an. Nach und nach wichen dann die Themen der Nachkriegszeit – Seuchenbekämpfung, Geschlechtskrankheiten sowie Ernährung – solchen des Lebensstils. Auf einer Gesundheitskonferenz in der DDR, Anfang der Sechzigerjahre, wurden unter der Überschrift „Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Lebensfreude für den Sieg des Sozialismus“ langfristige Orientierungen zur gesunden Lebensführung festgeschrieben. Rauchen, Alkohol und sexuelle Aufklärung entwickelten sich zu wichtigen Faktoren der Auseinandersetzung. Darüber hinaus kooperierte das Hygiene-Museum in den Achtzigerjahren mit der WHO und fand in zahlreichen postkolonialen Staaten Asiens und Afrikas einen Absatzmarkt für die eigens hergestellten Lehrmittel wie Schautafeln, anatomische Lehrkörper und verschiedene Arten von Modellen und Präparaten. Aber auch ganze Ausstellungen wurden etwa nach Burma („Du und Deine Gesundheit“, 1967), Tansania („Tuberkulose“, 1970) oder Syrien („Gesundheit für alle“, 1970) exportiert. Das Jahr 1989 bedeutete schließlich für das Hygiene-Museum einen Neuanfang. Von nun an begriff man sich nicht mehr als Gesundheitserziehungseinrichtung, sondern vielmehr als Museum mit eigenständiger Sammlung.

Seit April diesen Jahres ist nun der erste Teil der unter Leitung von Bodo-Michael Baumunk völlig neu konzipierten ständigen Ausstellung zu erleben, die erstmals in umfassender Weise die Exponate aus der Sammlung des Museums präsentiert. Eng verbunden ist die neue Dauerausstellung mit dem weitgehenden Abschluss der Sanierung des Gebäudes durch den Architekten Peter Kulka, die das Hygiene-Museum im Wesentlichen auf den Zustand von 1930 zurückführt. Inhaltlich bewegt sich die neue ständige Ausstellung weitgehend auf traditionellem Terrain. In vier Sälen bekommen die Besucher Einblicke zu folgenden Wissensgebieten: Der Gläserne Mensch. Bilder des Menschen in den modernen Wissenschaften (Saal I); Leben und Sterben. Vom Entstehen der Zelle bis zum Tod des Menschen (Saal II); Essen und Trinken. Ernährung als Körperfunktion und Kulturleistung (Saal III); Sexualität. Liebe, Sex und Lebensstile im Zeitalter der Reproduktionsmedizin (Saal IV).

Neu dagegen ist die Art und Weise, wie sich die Ausstellung präsentiert. So sagt Christoph Wingender, Pressesprecher des Hygiene-Museums: „Heute hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden: weg von der Gesundheitserziehung hin zur Gesundheitsaufklärung. Niemand würde mehr von Gesundheitserziehung sprechen, außer vielleicht irgendwelche erzkonservativen Lehrer.“ Dementsprechend offen und vielfältig gestaltet sich das neue Ausstellungskonzept: Es werden eher Angebote gemacht als fertige Antworten geliefert. Im Gegensatz zu den zahlreichen Sonderausstellungen der letzten Jahre wie zum Beispiel „Gen-Welten. Werkstatt Mensch“ (1998), „Kosmos im Kopf. Gehirn und Denken“ (2000) oder „Mensch und Tier“ (2002/2003) versucht die neue ständige Ausstellung mit einer weniger spektakulären Szenografie Aufmerksamkeit zu erlangen. Die dezente Ausstellungsarchitektur orientiert sich an der klaren, sachlichen Formensprache des Gebäudes. Dem liegt das Bedürfnis zugrunde, sich auf das Wesentliche zu besinnen: die Exponate. Was muss und was kann ein Museum im 21. Jahrhundert in diesem Sinne leisten? Wie können die neuen Medien sinnvoll in ein museumspädagogisches Konzept eingebunden werden, das vor allem auch junge Besucher ansprechen möchte? Eine gute Antwort auf diese Frage gibt gleich Saal I:

Auffallend ist hier die Kopplung traditioneller Exponate mit den neuen Visualisierungsmöglichkeiten des Rechners. So steht im ersten Raum der „Gläserne Mensch“ von 1930 neben dem „Virtuellen Mensch“. Dieses Projekt für die Abteilung „Mensch“ im Themenpark der Expo 2000 macht den transparenten Körper nun erstmalig in Bewegung sichtbar. Vorbild für diese Computeranimation war die Konzertmeisterin der Dresdner Philharmoniker, welche die ersten zwanzig Takte einer Bourrée aus der Partita I, h-Moll, von Johann Sebastian Bach einspielte. Zu Schlüsselexponaten des Saals I zählen ebenso die historischen Instrumente, mit deren Hilfe in der Vergangenheit die Tiefenschichten des Körpers erforscht wurden: Mikroskop und Röntgenapparat. Technikgeschichte verbindet sich mit Krankheitsgeschichte. Die historischen Wachsmoulagen offenbaren längst vergessene Krankheitsbilder des menschlichen Körpers, etwa Schädigungen der Hände durch Röntgenstrahlen.

Auf interaktive Angebote legen die Ausstellungsmacher großen Wert. Christoph Wingender: „Es soll nicht die stille Anbetung des Exponats sein, es soll auch ein Studierort, ein Leseort, ein Ort der Kommunikation sein. In der Ausstellung wird nicht geflüstert, sondern immer geplappert, gesprochen und gelacht.“ Ausprobieren und anfassen kann man hier vieles. Besonders eindringlich ist im Saal II „Leben und Sterben“ der „Age-Simulator“. Von Studenten der Bauhaus-Akademie in Dessau mit einfachen Mitteln entwickelt, kann man sich hier in einen alten Menschen transformieren. Die visuellen und auditiven Beschränkungen, die der Prozess des Älterwerdens mit sich bringt, werden hier ebenso erlebbar wie Probleme des Gleichgewichts oder die Koordinierung von Bewegungsabläufen.