Lebenslänglich Krieg

„Ich mache das, um denen zu danken, die für unser Land ihr Leben aufs Spiel setzten“, sagt Kristin MillerVictor Hergenreter verdrehte die Augen und biss sich auf die Zunge, bis Blut aus dem Mund quoll

AUS TOPEKA JAN BRANDT

„Der Krieg liegt mir im Blut“, sagt Kristin Miller. Vier ihrer Vorfahren waren Offiziere im Bürgerkrieg, ihr Großvater war Soldat im Ersten Weltkrieg, ihr Vater im Zweiten, nur sie selbst hat nicht gedient. Und vielleicht, so glaubt sie, ist das der Grund, warum sie sich für die US-Veteranen einsetzt und sie nach ihren Erlebnissen befragt: „Ich wünschte, ich wäre zur Armee gegangen, aber nun empfinde ich dies als meinen Militärdienst.“

Seit drei Jahren arbeitet Kristin Miller in einem Veteranenbüro in Topeka, im Bundesstaat Kansas, und führt Interviews mit ehemaligen Kriegsteilnehmern. Sie ist eine von 420 ehrenamtlichen Koordinatoren des „Veterans History Projects“. Sie ist gerade 50 geworden, aber in ihrer pinkfarbenen Strickweste und dem schwarzweißen Minirock wirkt sie wesentlich jünger. Zusammen mit ihrem Kameramann arbeitet sie in einem kleinen Büro, in dem ein Schreibtisch und zwei Ledersessel stehen. Von hier aus vereinbart sie Interviewtermine mit Veteranen, wertet das Material aus und bringt die Filmsequenzen in eine chronologische Reihenfolge.

In einer Ecke steht ein großer Fernseher, darunter ein Videorecorder, und in einem Regal, rechts neben der Eingangstür, stapeln sich Videokassetten, bisher unveröffentlichte Memoiren und Fotos von Menschen, mit denen sie sich getroffen hat. Kristin Miller schlägt die Beine übereinander und faltet die Hände wie zum Gebet, als sie von ihrer Arbeit erzählt. „Ich mache das, um denjenigen zu danken, die für unser Land ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben“, sagt sie, bricht ab und fängt an zu weinen. Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und entschuldigt sich mit den Worten: „Die Interviews sind mir heilig.“

Kristin Miller hat in Topeka Betriebswirtschaft studiert und später als Sozialarbeiterin in einem Heim Kinder betreut, die von zu Hause weggelaufen waren. Erst als ihr Vater vor vier Jahren starb, begann sie sich für seine Geschichte zu interessieren, für das, was er im Krieg erlebt hatte. Aber er hatte alle Dokumente verbrannt und auch keinen Hinweis hinterlassen, warum er nicht an seine Soldatenzeit erinnert werden wollte. Es war dieser Verlust, der Kristin Miller dazu bewegte, wenigstens die Geschichten der anderen Veteranen zu retten.

Dutzende Interviews hat sie seitdem geführt. Sie hat mit Paul Sunderland gesprochen, einem 107 Jahre alten Teilnehmer des Ersten Weltkrieges, der 1917 mit einem Schiff US-Truppen, Munition und Lebensmittel über den Atlantik transportierte. Sie hat den 77-jährigen Glen Sheridan besucht, der im Zweiten Weltkrieg im Pazifik kämpfte. Sie hat Männern und Frauen zugehört, die in Korea und Vietnam gewesen sind. Und sie hat dem 34-jährigen Cheyne Worley geholfen, seine traumatischen Erfahrungen aus dem Golfkrieg von 1991 zu verarbeiten.

Der Krieg lässt sie alle nicht mehr los. Er hält sie wie Gefangene, deren Wunden auch die Zeit nicht heilt. Kristin Miller erlebt es immer wieder. Es gibt Momente, in denen bricht die Erinnerung gewaltsam aus ihnen heraus. „Die Gespräche sind sehr emotional“, sagt sie. Viele sprechen zum ersten Mal über ihre Eindrücke. Manche haben lange geschwiegen, weil sie meinen, dass sie als einfache Soldaten bedeutungslos waren. Andere fühlen sich schuldig, weil sie getötet haben oder verletzten Kameraden nicht helfen konnten. Gerade für die älteren Veteranen sind die Interviews mit Kristin Miller wie eine Beichte. Erst jetzt, kurz vor ihrem Tod, reden sie – auch über die traumatischen Erlebnisse.

Immer wieder kommt es zu Zwischenfällen. Zum Beispiel als sie mit Victor Hergenreter sprach, der im Zweiten Weltkrieg deutsche Kriegsgefangene verhört hat. Er wurde weiß im Gesicht, er verdrehte die Augen und biss sich auf die Zunge, bis Blut aus seinem Mund quoll. „Ich nahm seinen Arm, fühlte den Puls und rief den Krankenwagen“, erinnert sich Miller. Erst dachte sie, es sei ein Schlaganfall, aber es war nur ein Nervenzusammenbruch, ausgelöst durch die Erinnerung.

In gewisser Weise ist Victor Hergenreter eine Art Vorläufer von Kristin Miller, jemand, der 1945 bis zur Erschöpfung mit hunderten gefangener Soldaten in Leipzig, Halle und Ludwigsburg sprach. Victor Hergenreter ist 85 Jahre alt und wohnt allein in einem Einfamilienhaus in Overland Park, einem hügeligen und wohlhabenden Stadtteil von Kansas City. An vielen Häusern in der Nachbarschaft weht seit Beginn des Irakkrieges die Nationalflagge, nur am Haus mit der Nummer 10715 nicht. Ein Mann mit vollem weißem Haar, in blauem Holzfällerhemd und roten Slippern öffnet die Tür.

Victor Hergenreter ist vorbereitet auf das Interview, hat sich seine Worte zurechtgelegt. Nur manchmal ist ein Zittern in seiner tiefen Stimme, ein kurzer Moment der Unsicherheit. Eine seiner vier Töchter ist bei ihm, sitzt meist schweigend zwischen den schweren Eichenmöbeln, passt auf, dass nichts passiert. Victor Hergenreter erzählt von seinen Vorfahren, von seinen deutschen Eltern, die 1907 über Russland in die USA auswanderten, in Kansas eine Farm betrieben und drei Söhne bekamen: Harry, William und Victor.

Die Jungs wollten Anwälte werden, für Gerechtigkeit kämpfen. Aber dann kam der Krieg, sie wurden gemustert, eingezogen und für den Einsatz in Europa ausgebildet. Victor Hergenreter traf am 12. April 1945 mit der 7. Armee in Glasgow ein, an dem Tag, an dem der 32. Präsident der USA Franklin Delano Roosevelt an einer Gehirnblutung starb, an dem die Alliierten Potsdam bombardierten und die letzte Ausgabe der SS-Wochenzeitung Das Schwarze Korps titelte „Es lebe der Führer“. Der Krieg war noch nicht zu Ende.

Seine Aufgabe bestand darin, deutsche Kriegsgefangene zu interviewen. Er gehörte einer Spezialeinheit des Military Intelligence Service an, First Lt. Victor Hergenreter, um den Hals die „Hundemarke“, eine Metallplakette mit der Nummer 01182381.

Als er Ende April an seinem Einsatzort Leipzig eintraf, waren sich wenige Tage zuvor Amerikaner und Russen in Torgau an der Elbe begegnet, weiße Fahnen wehten an den zerstörten Häusern. „Ich hab den Krieg nicht gewonnen“, sagt Victor Hergenreter. „Ich kam, als das Schlimmste schon vorbei war.“

In und um Leipzig waren in Lagern 275.000 deutsche Kriegsgefangene interniert. 15 Stunden am Tag führte Victor Hergenreter Verhöre und füllte Fragebögen aus. Die Gefangenen mussten erfasst werden, bevor das Gebiet am 1. Juli 1945, gemäß den Vereinbarungen von London und Jalta, der Roten Armee übergeben werden sollte.

Man habe damals alle gut behandelt, erinnert er sich. Misshandlungen oder Folter wie jetzt im irakischen Abu-Ghraib-Gefängnis habe es in den Lagern in Thüringen nicht gegeben. „Damals gab es eine andere Einstellung“, sagt er. „Die meisten von uns hatten deutsche Vorfahren oder kannten welche, die aus Deutschland kamen. Es gab eine kulturelle Nähe. All das fehlt im Irak. Mit diesem Land verbindet uns nichts“, sagt Hergenreter.

Vielleicht erklärt es manches, entschuldigen kann es das nicht. Er braucht sich keine Vorwürfe zu machen, sagt er. Für ihn war der Einsatz in Europa ein Abenteuer. Das Grauen des Krieges kennt er nur aus den Erzählungen seines Bruders oder seiner Kameraden. Viele Erinnerungen hat er nicht, nur manchmal werden sie an die Oberfläche gespült. Es sind vor allem die Bilder, die in seinem Kopf geblieben sind – Kinder mit vor Hunger gewölbten Bäuchen, Verwundete, Kranke, Leichen am Straßenrand. Und hunderte von abgemagerten und müden Soldaten, denen er seine Fragen gestellt hat. „Ich bin froh, dass ich das gemacht habe“, sagt er heute. „Und ich bin froh, heil wieder nach Haus gekommen zu sein.“

Trotzdem hat der Krieg ihn nie wieder ganz losgelassen. Auch er blieb so etwas wie ein Gefangener des Krieges, einer, der sich nach seiner aktiven Dienstzeit verpflichtet fühlte, für Amerika zu kämpfen. Bereits 1946 gründete er zusammen mit seinem Bruder die erste „Military Reserve Corps Unit“ in Topeka. Siebzehn Jahre lang war er Reservist, nahm am Wochenende an Übungen teil, gedachte am Memorial Day der Gefallenen und flog mit dem „Veterans Travel Service“ um die halbe Welt. Er versteht nicht, warum sich Kristin Miller, seine Töchter und irgendwelche Journalisten plötzlich für ihn interessieren. „Es war doch nichts Besonderes“, sagt er zum Abschied, als wäre sein Leben schon vorbei.

„Die Generation derjenigen, die im Zweiten Weltkrieg dabei waren, tritt allmählich ab“, sagt Kristin Miller. Sie hat keine Zeit zu verlieren, sie führt einen Wettlauf mit dem Tod. „Jeder Soldat hat eine einzigartige Geschichte“, sagt sie, „und die möchte ich festhalten.“ Je mehr über das Projekt berichtet wird, desto mehr Veteranen melden sich bei ihr. Sie will niemanden ablehnen, niemandem sagen, dass er warten müsse. Auf ihrem Schreibtisch türmen sich die Anfragen, stapeln sich Notizzettel, auf denen sie Namen und Adressen schreibt. Sie weiß nicht, wie sie das alles schaffen soll. Und es gab schon wieder einen neuen Krieg. Mit neuen Veteranen. Und neuen Geschichten.