Ob du das Größte für mich bist

Beim Hurricane Festival am letzten Wochenende feierte das Publikum die Musik und sich selbst. Doch wie erlebten die Akteure auf der Bühne die entspannten Tage? Ein Blick hinter die Kulissen, auf die Stimmungslagen der Gitarrenrocker „Tigerbeat“ und der HipHopper „Beginner“

von Volker Peschel

„Das Publikum will keine mühsame Arbeit sehen! Das ist das Wichtigste bei einem Auftritt. Das Publikum will eine entspannte, gut aussehende Band auf der Bühne haben.“ Doch von Entspannung ist bei Frehn Hawel, dem Sänger und Gitarristen der Band Tigerbeat, momentan nichts zu sehen. Es ist Freitagnachmittag, das eigentliche Festivalgelände ist für die Besucher noch geschlossen und es regnet in Strömen. Von vorne. So dass der Wind die nassen Böhen bis in die hinterste Ecke der „2nd Stage“ treibt, deren Dach nun überflüssig erscheint. „Ich spiele E-Gitarre, ich weiß nicht, ob das nicht kritisch wird“, schaut Frehn stirnrunzelnd vom Bühnenrand auf die mit Planen abgedeckten Instrumente.

Währenddessen haben sich gut 40.000 Besucher auf dem unübersichtlichen Campingareal bei der niedersächsischen Kleinstadt Scheeßel zum achten „Hurricane Festival“ eingefunden und ihre Zelte aufgeschlagen. Manche sind noch nicht 18, einige bereits über 30 Jahre alt. An drei Tagen werden fast 50 Bands auf zwei Bühnen für sie spielen, und Tigerbeat haben das zweifelhafte Vergnügen, als Allererste das Open Air auf der erwähnten „2nd Stage“ zu eröffnen.

„Die erste Band zu sein muss gar nicht schlecht sein. Die Leute haben dann noch richtig Bock auf Musik!“, hofft Frehn. Doch momentan heißt es noch Warten, noch zwei Stunden bis zum Auftritt. „Das sind die Momente, wo man lieber zuhause bei der Familie wäre - mein Kind ist gerade ein Jahr alt.“ Mit Plastikschrubbern schieben derweil Stagehands die großen Pfützen von der Bühne. Bleibt Zeit für einen Abstecher zum schicken Buffet im Artist Catering: Pasta mit ligurischer Mandelsauce oder gefüllter Lammbraten mit Wirsing á la Creme.

Dann wird es Ernst für Tigerbeat. Stagetime: 17.30 Uhr. Die Tore zum Festivalgelände sind längst geöffnet und es füllt sich zusehends. Die Band steht jetzt am Bühnenrand, ist nervös. Frehn geht auf und ab, trällert sich in sehr hoher Tonlage warm, zieht den Hosengürtel enger. Gitarrist Daniel steht stumm da, dehnt sich die Arme umständlich auf dem Rücken. Dann bilden die Vier einen Kreis, die Gesichter gen Boden, umarmen sich - und rennen auf die Bühne.

Mit den ersten Takten vertreiben sie den Regen, der dann brav jede Band bis in die Sonntagnacht verschonen wird. Euphorisch spielen sie ihre klugen Rocksongs. Frehn kniet nieder, bearbeitet seine Gitarre direkt vor dem Verstärker. Tastenmann Stefan springt von seinem Hocker auf, Schlagzeuger Sven greift sich eine Wasserflasche, versucht zu trinken, schüttet sich den halben Inhalt dabei über. Und schon ist alles vorbei. „Das ist das Gute beim Festival. Du weißt, dass du nur 30 Minuten hast und kannst einfach alles rauslassen!“, schnauft Frehn. Nach Arbeit hat ihr Auftritt nicht ausgesehen.

Das Publikum zieht weiter, denn das weitere Programm des Freitags lockt mit den wiedervereinten Indierocklegenden Pixies. Andächtig lauschen viele. Auch Brian Molko von Placebo schaut von einer kleinen Empore am Rand der Bühne zu, er wird danach gewohnt gut rocken. Abschließend betritt David Bowie die Hauptbühne. Umjubelt steht er da, spielt lässig in seinen Haaren, wackelt neckisch mit den Schwänzen seines roten Frackes. Dass er direkt nach dem Auftritt wegen eines eingeklemmten Nervs ins Krankenhaus fährt, ist ihm nicht anzumerken. Mit der Lässigkeit eines Weltstars singt er seine Zugabe an: „Ziggy played guitar!“ Dazu faucht er wie eine Wildkatze ins Mikro.

Am Samstagmorgen strahlt die Sonne, die Besucher strömen los, um etwa die Hamburger Jungs Tomte zu früher Stunde zu beklatschen oder die Politwirbelwinde The (Int.) Noise Conspiracy zu begutachten. Highlight sind die von allen geliebten Franz Ferdinand mit ihrem elaborierten Gitarrenpop, bevor die Altstars The Cure beschließen, es dem Publikum mit schwer Verdaulichem nicht so leicht zu machen.

Am Sonntagmorgen begeistert bereits früh der Rock‘n‘Roll von Mando Diao, als die drei HipHop-Jungs von den Beginnern sich noch berappeln. Mit einem knallroten Nightliner sind sie von einem Auftritt in der Schweiz angereist, haben in den Bettkabinen des Zweistöckers genächtigt. Doch wo bei Tigerbeat entspanntes Warten vor dem Auftritt angesagt war, ist es bei Eizi Eiz, Denyo und Mad stressig. Sie sind einer der Hauptacts am letzten Abend auf der „Mainstage“, und jeder will ihnen ein paar Momente abzwacken. Ein Pressebetreuer wacht über die Wünsche von Magazinschreibern, Radiomoderatoren oder Charlotte Roche.

Ein bisschen Zeit bleibt doch, um noch mal im Bandbus abzuhängen. Selbst Hund Gustav möchte da nicht stören und hüpft durch einen Spalt der codegesicherten Tür hinaus. Mad setzt sich in die leicht speckigen Sitze, reibt sich einen Fleck auf seiner Jeans mit Daumen und Spucke weg. Er sinniert, ob es den betagten Jungs von Cypress Hill (mit denen sie heute den dritten Abend in Folge auf einem Festival spielen werden) diesmal gelingen wird, ihn wie angekündigt unter den Tisch zu kiffen. Er lächelt milde in sich hinein.

Dann wird es auch für die drei Beginner ernst. Stagetime: 19.00 Uhr. Rappelvoll ist es draußen. Eizi Eiz versteckt sich noch hinter einer Bühnenecke, springt konzentriert auf und ab. Denyo sitzt gedankenversunken etwas abseits, spricht Textpassagen in sich hinein. Laute Introklänge werden jetzt gestartet, das Publikum jubelt erwartungsvoll los. Die beiden halten noch kurz inne, rennen dann raus bis an den Rand der großen Hauptbühne. Eine Stunde lang werden sie die Bässe pumpen lassen, ihre Geschichten erzählen, dazu trommeln und feiern. Eine große Party. Schnaufend und verschwitzt kommen sie danach von der Bühne. Wie war der Auftritt, Denyo? „Sehr derbe!“

Wenig später schon tummeln sich die Beginner versteckt am Rand der „2nd Stage“, werfen von dort einen Blick auf ihre wirbelnden Kollegen von den Beatsteaks. Die breit grinsenden Berliner Punks spielen eine irre Show. Die zusammengedrängte Menge springt begeistert, zahllose lassen sich auf den Händen tragen, fallen vorne bei den breitschultrigen Ordnern über. Sänger Arnim stellt ein Surfbrett auf die ausgestreckten Hände der ersten Reihen, lässt sich vom Publikum tragen. Als die Beatsteaks jemanden suchen, der für sie einen Song trommeln möchte, stellt Eizi Eiz spontan sein Cocktailglas weg und sprintet auf die Bühne.

Und auch beim folgenden Auftritt der Sportfreunde Stiller wird er zum Joker. Mit seiner schrägen Basecap auf dem Kopf eilt er wieder auf die Bühne, ungefragt greift er sich ein Mikro und singt mit: „Siehst du das genauso?“ Dazu wippt er von einem Bein aufs andere wie ein Storch. Nach Arbeit sieht in diesen letzten Stunden beim „Hurricane Festival“ gar nichts mehr aus. Glücklich feiert das Publikum sich selbst und die drei Sportfreunde in der untergehenden Sonne. „Ich wollte dich / nur mal eben fragen / ob du das / Größte für mich bist?“ singen Tausende mit. Ein Abschiedsgruß in den Abendhimmel nach drei entspannten Tagen beim Kuschelfestival im Norden. Bis zum nächsten Jahr. Adios!