Raum und Wissen erobert

Mindestens alles: Hart Cranes riesiges Poem „The Bridge“, fein übersetzt von Ute Eisinger

VON NICOLAI KOBUS

„London Bridge is falling down …“ – als T. S. Eliot 1922 diese Zeile aus einem englischen Kinderlied in sein Langgedicht „The Waste Land“ montierte, war das gewissermaßen ein sarkastischer Triller über der Schlussnote eines dunklen Abgesangs auf das „alte Europa“. In New York lebte zu dieser Zeit ein junger amerikanischer Dichter und schaute aus seinem Fenster auf die Brooklyn Bridge.

Hart Crane, 1899 in Ohio geboren, bewunderte Eliot als Dichtersolitär, dessen Pessimismus aber, dieses so endgültig tote Szenario des Waste Land, war ihm unerträglich. Crane hatte eine andere Brücke vor Augen, eine über Raum und Zeit gespannte, eine Mythen bildende, zu neuen Ufern führende. „The Bridge“, 1930 erschienen, ist ein hybrides Gebilde: ein aus fünfzehn Einzeltexten, meist selbst schon Langgedichten komponiertes, riesiges Poem, das nichts weniger will als alles. Die Bögen der Brücke spannen sich von der Frühgeschichte Amerikas mit Columbus und Pocahontas über die Zeit der Walfänger und Eisenbahnpioniere bis ins Manhattan der Zwanzigerjahre. Crane ging es um die „Eroberung von Raum und Wissen“, doch sein Gedicht ist keine epische Chronologie. Eine Brücke wird von beiden Seiten zugleich gebaut, und ihre Statik verlangt die gleichzeitige Gegenwart der Kräfte aller ihrer Elemente. So hält dieses Gedicht in der Vergangenheit immer auch die Zukunft präsent, wie auch die Gegenwart ohne Geschichte nicht zu denken ist: „So to thine Everpresence, beyond time,/ … ( One Song, one Bridge of Fire!“

Crane beschwört die alten Mythen von Atlantis, Cathay und Ultima Thule, um sie in seinen „Mythos Amerika“ zu überführen – weniger ein reales Land als eine schöpferische Utopie im Sinne Whitmans. Dass diese Utopie aber keiner unkritischen Affirmation entspringt, dafür bürgen Melville, Poe und Dickinson als literarische Ahnen sowie Cranes Blick auf die Welt, die ihn umgab. Er wusste, wo er lebte, bevor er sich 1929 wie viele seiner Zeitgenossen nach Paris absetzte: „Gelobtes Land war das und ist es gewiss/ für den beredten Grundstücksmakler noch stets,/ wo in verbotenen Bars neben der Straße Gin Fizz/ im Takt von Hollywood-Reigen Bläschen schlägt.“

Im angloamerikanischen Sprachraum ist Crane schon seit seinem ersten Gedichtband („White Buildings“, 1926) eine feste Größe. Hierzulande muss er noch entdeckt werden, zwingend, dringend. Die nun vorliegende erste Übertragung der „Brücke“ durch Ute Eisinger ist nicht nur eine gute Gelegenheit, sondern ein Glücksfall. Das Stimmengewirr und die Formenvielfalt des Originals ans deutsche Ufer zu übersetzen braucht vermutlich eine ähnliche Mischung aus Akribie und Unerschrockenheit, wie sie für den Urtext selbst vonnöten war. Schon rein formal gäbe es genug Gründe, „The Bridge“ als unübersetzbar den Archiven zu überlassen: Metrisch streng geordnete Strophen mit Endreim stehen neben Blankversen und freien, rhapsodischen Langzeilen. Die Tonlagen wechseln zwischen exaltiertem Pathos, ziselierten Manierismen und rotzigem Slang. Eisinger gelingt das Akrobatische, einerseits eng an der Vorlage zu bleiben, andererseits sich so viel poetische Freiheit zu nehmen, dass der verwirrende Anspielungsreichtum, die vertrackte Konstruktion, die Lebendigkeit des Originals weitgehend erhalten bleiben: „Then, with inviolate curve, forsake our eyes/ As apparitional as sails that cross/ Some page of figures to be filed away;/ ( Till elevators drop us from our day.“

Vier Zeilen aus dem Arbeitsalltag eines Finanzangestellten, zugleich ein schweifender Blick über die Brooklyn Bridge. Im Deutschen heißt es: „Sodann, bei ungebrochner Kurve, unser Auge fliehen,/ so schemenhaft wie Segel ziehen/ über eine Seite Kolonnen, die’s ablegen heißt;/ ( bis uns vom Arbeitstag ein Aufzug auslässt …“ Reim und Rhythmus gerettet, Bild und Bewegung behalten. Dass sich nicht alles retten lässt, zeigt Eisingers kluger und hilfreicher Kommentar. „Eye“ ist lautlich im Englischen auch das Ich, „sails“ sind auch die „sales“, Verkäufe, und „figures“ Zahlen wie Figuren, Menschen.

„Die Brücke“ durchmisst einen Tageslauf von Sonnenauf bis -untergang und umfasst zugleich ein Menschenleben. Sie beginnt mit dem Aufbruch, dem In-See-Stechen des Columbus, und endet mit der kreischenden Fahrt eines Zuges in den Tunnel der Nacht: „Der Wagen/ rollt fort. Der Zug umkurvt, biegt sich zum Schrei,/ nimmt eine letzte Stufe für den Tauchgang/ untern Fluß (/ und irgendwie leerer als zuvor,/ verrückt, einen Augenblick stößt auf mit Rumpeln; dann/ loslässt … In die Ecken auf dem Boden/ heben Zeitungsfetzen ab, kreisen, segeln./ Blanke Fenster gurgeln Signale durchs Gebrüll.“

Für Crane war diese Bewegung eine unendliche, der nächste Morgen ein Auftauchen aus der Unterwelt, ein neuer Aufbruch nach Atlantis gewiss. Darin bestand sein großer Gegenentwurf zum „Waste Land“. T. S. Eliot flüchtete aus seinen europäischen Ruinen in die anglikanische Kirche. Crane sprang ins Wasser, nicht von der Brooklyn Bridge, sondern 1932 während einer Schiffspassage von Mexiko nach New York, nicht zum Baden, sondern endgültig. Man muss das aushalten.

Hart Crane: „The Bridge / Die Brücke. A Poem / Ein Gedicht“. Aus dem amerikanischen Englisch und mit Anmerkungen von Ute Eisinger. Jung und Jung, Salzburg 2004, 168 Seiten, 22 Euro