Vom Wurmloch

Die große Sehnsucht nach dem gefährlichen Denken: Eine Tagung in Köln setzte ihre Hoffnungen auf Gilles Deleuze

Deleuze steht radikal außerhalb des Diskursdenkens, bricht es fundamental auf

Wie bestellt brach am vergangenen Wochenende der Strom der urbanen Intensitäten für einen Moment in die Deleuze-Tagung in Köln ein. In der Buchhandlung Bittner stellte sich Mirjam Schaub aus Berlin gerade der Frage, ob der marginalste Philosoph unter den französischen Poststrukturalisten überhaupt eine Methode hat, als ein Männlein von draußen die Ladentür einen Spalt breit öffnete und konzentriert ein Gedicht aufsagte. Es handelte von einem kleinen Land, in dem die Menschen stottern. Die Guerilla-Erscheinung belohnte die Entscheidung der Organisatoren Hanjo Berressem und Norbert Finzsch vom amerikanistischen und historischen Seminar der Universität zu Köln, die Eröffnung der Tagung aus der Hermetik der Hörsäle in die Schaufenster der Stadt hineinzutragen. Wäre Gilles Deleuze, der 1995 seinem Leben ein Ende setzte, je auf Konferenzen gewesen, hätte auch er seine Freude an dem verstörenden Vierzeiler gehabt. Nicht nur, weil er die Sprache zersetzenden Figuren aus den Romanen von Melville und Kafka liebte. Gerade die allgegenwärtigen Brüche zeichnen in seinem Werk das Leben aus.

Auch die zum Seminarraum gewordene Buchhandlung verwandelte den Auftakt in ein deleuzianisches Szenario: Eine Landschaft heterogener Ebenen formierte sich aus Reihen von Köpfen und gestapelten Büchern von und über Deleuze; von seiner Wiederentdeckung der vitalistischen Philosophie über die gemeinsam mit Felix Guattari verfasste Bibel der Achtundsechziger „Anti-Ödipus“ und der Popanalyse „Tausend Plateaus“ bis zu seinen Kino-Büchern und dem Comic „Salute, Deleuze!“, in dem er in der Unterwelt auf Foucault, Barthes und Lacan trifft. Wo seine Kollegen aber Zentralorgane der akademischen Wissensverwaltung geworden sind, fällt Deleuze die Rolle des utopischen Querdenkers zu. Der Titel der Tagung „Deleuze: [n-1]“ formuliert die Alternative zu den hierarchisierenden Theorien, die wie Zombies durch die Universität wanken. Für Berressem liegt im Außenseitertum auch das Potenzial: „Deleuze ist immer noch wie die Grünen, bevor sie in den Bundestag gegangen sind. Er steht radikal außerhalb des Diskursdenkens und bricht es dadurch fundamental auf.“

Mit wissender Respektlosigkeit las dann erst einmal der Kulturwissenschaftler und Künstler Yves Abrioux aus Paris den Philosophen gegen ihn selbst. Hinsichtlich des Malers Francis Bacon sei er in das Klischee des Künstlers als Rebell getappt, gegen dessen Mystifizierung er doch gekämpft habe.

Was Lacan für Žižek ist, ist Deleuze für Rosi Braidotti, eine der anziehendsten Figuren der kleinen akademischen Meute von Deleuzianern. Auf deren informeller Tagesordnung steht neuerdings auch das Žižek-Bashing. Auf den Lacanianer, der nach Deleuze im Dienste der Aufrechterhaltung des Subjekts und somit der Macht steht, ist die Jagd eröffnet worden, nachdem er in dem Buch „Organs Without Bodies“ den Antidialektiker Deleuze ausgerechnet zum Hegelianer gemacht hatte.

Auf ihre Zeit als Studentin bei Deleuze angesprochen, flachste Braidotti beim Abendessen über „die Zeiten, als Philosophie noch gefährlich war“. Am letzten Konferenztag bewies die in Utrecht lehrende postmoderne Feministin, wie anschlussfähig Deleuze an alltägliche Praktiken des Jahrhunderts ist, das Foucault einst als deleuzianisches vorhergesagt hatte. Leidenschaftlich forderte sie eine Ethik des nomadischen Subjekts, das die Schizophrenie zu denken beginnen muss, die wir im Spätkapitalismus schon lange leben. Für sie müssen die Fluchtlinien aus der Mitte der Gesellschaft kommen: „Wir bleiben hier und machen euch die Hölle heiß!“

Im Kontrast dazu stand der strenge Auftritt der Choreografin Petra Sabisch aus Berlin. Mit coolem Flow und Tanztheater-Ausschnitten drosselte sie das Tempo und warf den gesellschaftspolitischen Pragmatismus Braidottis auf transformierende Materialitäten des Körpers im Bühnenraum zurück. Zur Bühne selbst wurde der Hörsaal, als Sue Golding aka Johnny Danger das Licht ausknipste und in ihrem Vortrag auch ein Lied sang. In den Gesprächsrunden politisierte und überhöhte die in Greenwich lehrende amerikanische Multitaskerin stets das Fachwissen der Kollegen, indem sie etwa das deleuzianische Falten-Paradigma anhand des Wurmlochs aus „Star Trek“ erklärte und die Unterhaltung mit Anekdoten aus ihrer Zeit als Hausbesetzerin kontaminierte.

Goldings nonlinear andockendes Plateau-Hopping deterritorialisierte die Gespräche wie Madonna einst Geschlechterrollen. So nahm der produktive Clash der Deleuzianer aus verschiedenen Disziplinen ständig multiple Ausfahrten vor der Sackgasse. Der Schwebezustand der Unvollständigkeit oszillierte besonders hoffnungsvoll im Neuland der antinarrativen Geschichtsschreibung, mit der sich der Historiker und Kanak-Attack-Aktivist Massimo Perinelli aus Köln auseinander setzte. An die losen Enden von „Deleuze: [n-1]“ wird nächstes Jahr angeknüpft, wenn das Projekt Deleuze mit einer größeren internationalen Tagung erneut ein Zentrum in Köln findet. Beiträge aus der Biologie, Popkultur und dem Netzwerkaktivismus, in dem rhizomatische Strukturen nach Deleuze und Guattari praktiziert werden, sollen das Feld erweitern. Ganz so ungefährlich klingt das nicht. Und gekickt hat es schon dieses Mal. UH-YOUNG KIM