Die süße Sorge ums Selbst

Gesunde gibt es nicht – nur solche, die nicht gründlich untersucht wurden. Warum die Gesundheitsreform an unserer „Befindlichkeitsindustrie“ vorbeizielt. Eine Polemik

Das Paradox ist: Der medizinische Fortschritt macht die Menschen nicht gesünder

Der 32-jährige Mann entwickelte am Daumen und am kleinen Finger der rechten Hand Ekzeme. Holländische Ärzte nahmen sich des Bildschirmarbeiters an. Ihr Patient war täglich vier Stunden im fahlen Schein der Monitoren tätig. Als sie die Ursache erkannten, publizierten sie den Fall. So schaffte es der „Mousepad-Finger“ in die Fachliteratur. Neue Tätigkeiten, neue Leiden.

Auch von Arbeitssucht, Oralphobie, Ostalgiesyndrom, Vorsorge-Junkies und Wellness-Hysterikern ist zu lesen. Man müsste sich die Mühe machen, die Zahlen der Leidenden zu addieren. Hier scheint zu gelten: Wer bietet mehr? Nach den in Deutschland kursierenden Daten ist die Zahl der von diversen Leiden Betroffenen höher als die Einwohnerzahl des Landes. Erstaunlich, denn epidemiologisch gesehen ging es uns nie so gut wie heute.

Trotzdem haben die Menschen gelernt, ihrem Wohlbefinden zu misstrauen. Immer häufiger sind Klagen über Befindlichkeitsstörungen. Inzwischen gibt es Leiden für jede Lebenslage. Männer leiden anders als Frauen, Lehrer anders als Ärzte, Wessis anders als Ossis. Mittlerweile ist eine „Befindlichkeitsindustrie“ entstanden: Mediziner beschreiben neue Krankheiten, pathologisieren das bisher Normale und katalogisieren es in wichtig klingenden Diagnosen. Und schon finden Kongresse statt, Experten werden ausgerufen oder ernennen sich selbst, Pharmafirmen stellen Produkte her. Ein Leiden macht Karriere. Natürlich geht es dabei um materielle Interessen. Dem findigen Kopf, der den Begriff „Zellulitis“ prägte, sollte die Kosmetikindustrie ein Denkmal setzen – eine Pseudokrankheit, für deren Behandlung Millionen ausgegeben werden.

Es ist verblüffend, wie viele Krankheitsangebote neu auftauchen. Da wird von deutschen Ärzten die „Botulinophilie“ beschrieben, weil drei Bewohner der neuen Bundesländer Spritzen gegen das Schwitzen wollten, obwohl sie nicht übermäßig schwitzten. Dass der „krankhafte Liebeswahn“ eine „ernst zu nehmende psychische Störung“ ist, hatte man zwar schon immer geahnt, aber es ist trotzdem beruhigend, wenn eine Vermutung wissenschaftlich beglaubigt wird. Auch die „generalisierte Heiterkeitsstörung“ tauchte in der Fachliteratur auf. Der Autor weiß zwar, dass Heiterkeit früher „als erstrebenswerter Seelenzustand“ galt. Heute jedoch stelle „insbesondere der persistierende Zustand der Heiterkeit eine wirklichkeitsunangemessene pathologische seelische Gemütsverfassung“ dar. Bedenklich. Mehrere Mediziner entrüsteten sich über die Krankheit. Ihnen war entgangen, dass der Autor das Erfinden neuer Syndrome persiflieren wollte.

Doch nicht nur die Krankheiten haben sich verändert. Ausgebildete Kranke gingen bislang oft nicht erst zum Hausarzt, sondern gleich zum Spezialisten. Die Medizin kommt diesem Bedürfnis entgegen – es gibt Ärzte für jede Kleinigkeit. So wie es Lebensabschnittsgefährten im privaten Bereich gibt, nimmt sich der mündige Patient den Teilleistungsexperten als Arzt.

An ihrer Krankheitsüberzeugung halten viele Patienten unbeirrt fest. Nichts ist schlimmer, als die Ernsthaftigkeit der Beschwerden zu hinterfragen. So sind wir auf dem besten Weg, zu hilflosen Experten unserer eigenen Gesundheit zu werden: Im Internet und in den zahlreicher werdenden Selbsthilfegruppen kursieren Meinungen über Erkrankungen unabhängig von Medizinfakultäten. Diese Vielfalt der Deutungsmuster macht das Leiden für den Einzelnen nicht einfacher.

Denn schon heute haben in den Praxen der Mediziner fast die Hälfte aller Patienten „funktionelle Beschwerden“. Darunter werden Leiden verstanden, bei denen nichts Krankhaftes festgestellt wird. Als Erklärung im Fall eines krankhaften Befunds heißt es häufig: „Das ist psychisch.“ Doch diese vulgärpsychosomatische Deutung kann nicht nur zur Gesundung führen, sondern auch zu Beschuldigung und Selbstbezichtigung der Kranken als Opfer ihrer selbst: Wer dafür sorgen kann, dass er gesund bleibt – so das unausgesprochene Credo –, ist selbst schuld, wenn er krank wird. Das zu verhindern, braucht es medizinische Experten.

Die Vielfalt der Leiden ist erweitert worden. Neu im Angebot: die Wechseljahre für den Mann. Natürliche Alterungsvorgänge werden hier pathologisiert. Impotenz ist spätestens seit Pelés Werbung für „Viagra“ („Sprechen Sie mit Ihrem Arzt darüber“) von der Medizin vereinnahmt worden. Sie ist keine gelegentliche Unpässlichkeit mehr, sondern zur therapiebedürftigen Krankheit geworden. Mittlerweile wird Männern suggeriert, sie müssten immer und überall können.

Junge Mütter sind heute besorgter und gehen mit ihrem Nachwuchs schneller zum Arzt als vor Jahren. Nicht nur Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsdefizit sind zu Modediagnosen mit epidemischen Ausmaßen geworden. Kinderärzte spezialisieren sich auf die Behandlung von Schlafstörungen oder „Schreikindern“. Natürlich gibt es Kinder, die unruhiger sind, schlechter schlafen oder mehr schreien als andere. Neu ist, dass dies mittlerweile als medizinisch kontroll- und therapiebedürftig angesehen wird. Der Alltag wird so zunehmend von der Medizin bestimmt. Die Durchdringung aller biologischen, seelischen und sozialen Dimensionen des Lebens schreitet fort.

Diese Beispiele sind nicht nur von anekdotischem Interesse. Die medizinischen Dienstleister versuchen, Angebot und Nachfrage zu regeln und neue Nischen zu besetzen. Damit gerät jede Lebenslage, wird jeder Mensch zum Ansatz für eine Behandlung – nicht nur die Dicken und Trägen. Auch wer regelmäßig Sport treibt, nicht raucht und sich gesund zu ernähren glaubt, fühlt sich immer öfter nur noch gesund auf Probe.

Denn unsere Gesundheit verflüchtigt sich unter dem Diktat von Risikoabwägungen. Es gibt kaum noch Gesunde – nur Menschen, die nicht gründlich genug untersucht worden sind. Schon heute sind die Folgen spürbar. Die Absicherungsmedizin schafft sich einen Teil ihres Bedarfs selbst: Unter den Schlagwörtern „Vorbeugung“ und „Risikominimierung“ werden Gesunde untersucht und behandelt. Schon jetzt gibt es in den Praxen der Ärzte immer mehr Gesunde mit Befunden, die keine Bedeutung haben, und immer mehr Kranke ohne Befund.

Die Zahl der von diversen Leiden Betroffenen ist höher als die Einwohnerzahl des Landes

Und so kommt es zu einem unauflösbaren Paradox: Der medizinische Fortschritt macht die Menschen nicht gesünder. Denn jeder Entwicklungsschritt wird mittlerweile untersucht. Gleichzeitig unterliegen Gesunde wie Kranke dem zur Pflicht gewordenen Wunsch, sich wohl zu fühlen. Der Psychiater Klaus Dörner brachte das „Leiden an der Gesundheit“ auf den Punkt: „Je mehr ich für meine Gesundheit tue, desto weniger gesund fühle ich mich. Gesundheit gibt es nur als Zustand, in dem der Mensch vergisst, dass er gesund ist.“

Diese Selbstvergessenheit lassen wir selten zu. Ärzte, Patienten, Pharmaunternehmen und Betroffenengruppen sorgen dafür, dass uns ein Zustand ohne Beschwerden suspekt vorkommt. Unsere süße Sorge um das Selbst tut ein Übriges.

WERNER BARTENS