„Die Mauer fiel in Danzig“

HENRYK WUJEC, 68, war einer der bedeutendsten Solidarność-Aktivisten. Mit Tadeusz Mazowiecki, dem späteren Premier Polens, verhandelte er über die Wiederzulassung der verbotenen Gewerkschaft Solidarność. Er war noch während des Studiums zur Opposition gestoßen, hatte 1968 die Studentenrevolte in Warschau unterstützt und später das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) mitgegründet. Während des Kriegsrechts, das General Jaruzelski im Dezember 1981 über Polen verhängte, wurde er Sekretär des Staatsbürgerkomitees bei Lech Wałesa. In diesem Komitee wurde das Solidarność-Programm für den runden Tisch ausgearbeitet. Nach den ersten, noch halbfreien Wahlen in Polen am 4. 6. 1989 zog Wujec ins Parlament ein, 1999 wurde er stellvertretender Landwirtschaftsminister. Später engagierte er sich in der „Stiftung für Polen“. Bis heute zählt er zu den bedeutendsten Intellektuellen Polens.

INTERVIEW GABRIELE LESSER

taz: Herr Wujec, wie finden Sie das heutige Polen?

Henryk Wujec: Schön! Es ist das Polen, für das ich gekämpft habe. Natürlich hat es immer noch viele Fehler und Mängel. Aber die kommenden Generationen müssen ja auch noch etwas zu tun haben. Nein, im Ernst: Was wir geschafft haben, ist eine große Sache.

Sie haben für Solidarność 1989 am runden Tisch in Warschau mit den Kommunisten verhandelt. Haben Sie erwartet, dass Sie zwanzig Jahre später in einer Demokratie leben würden?

Wir hatten nicht die geringste Ahnung. Schließlich lebten wir seit 1945 im kommunistischen Block. Wir wussten, dass alle Versuche, sich von diesen Fesseln zu befreien, mit dem Einmarsch der sowjetischen Armee enden würden. So wie in 1956 Ungarn oder 1968 in der Tschechoslowakei. Unsere Hauptforderung war nur die Wiederzulassung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność.

Wie wirkten Glasnost und Perestroika?

Uns war klar, es war viel möglich. Sehr viel. Aber dass in Polen innerhalb von ein paar Monaten eine demokratische Regierung entstehen könnte und sich später sogar die sowjetische Armee freiwillig aus Polen zurückziehen könnte, das hatten wir in unseren kühnsten Träumen nicht erwartet.

Am Gebäude der ehemaligen polnischen Botschaft in Berlin hängt ein Banner mit der Aufschrift „Es begann in Gdansk“. Warum ist das so wichtig?

Weil eben wirklich alles in Danzig begann, das freie Polen, der Fall der Mauer, die samtene Revolution, das Ende des Kommunismus. Es begann mit den Streiks auf der Lenin-Werft, wo die Arbeiter die erste unabhängige Gewerkschaft im damaligen Ostblock erkämpften. Die Solidarność machte dann allen anderen vor, dass es möglich ist, das scheinbar Unmögliche zu erreichen. Der Fall der Mauer begann in Danzig. Daran sollten sich die Deutschen erinnern.

Denken Sie, dass die Montagsdemonstrationen in Leipzig, Berlin und anderen Städten die Solidarność-Streiks zum Vorbild hatten?

Die Polen waren schon frei. Sie hatten sich selbst befreit. Das gab allen anderen Mut, auch den Deutschen. Sie würden es allein schaffen. Der Ruf „Wir sind ein Volk!“ zeigt das doch. Hilfe von außen war nicht notwendig, keine amerikanischen Panzer und keine waffenstarrenden Armeen.

Als dann am 9. November in Berlin die Mauer fiel: Was war das für ein Gefühl in Polen?

Das war ein furchtbares Wechselbad der Gefühle. Einerseits freuten wir uns für die DDR-Deutschen, andererseits kroch in uns eine tief sitzende Angst hoch. Kanzler Helmut Kohl war damals gerade zu Besuch in Polen. Als er seine Visite unterbrach und nach Berlin fuhr, hielt ganz Polen den Atem an: Würde Kohl nach Polen zurückkommen und die lang geplante Visite fortsetzen? Er kam zurück. Das war gut. Aber die Angst wich lange nicht. Ich zum Beispiel kam als Zweieinhalbjähriger ins KZ Majdanek. Meine Eltern konnten flüchten und sich in den Wäldern verstecken. Ich wurde gegen Bezahlung rausgeschmuggelt. Sonst hätte ich nicht überlebt. Das vergisst man nicht. Bei der Wiedervereinigung Deutschlands dachte Kohl aber nicht an Polen und unsere furchtbaren Kriegserfahrungen. Wir wollten, dass er so schnell wie möglich die deutsch-polnische Grenze anerkennt. Er aber wollte Rücksicht nehmen auf die Vertriebenen und erst die Wahlen gewinnen. Das hat uns furchtbar verletzt.

Schmerzt es die Polen, dass der Fall der Mauer weltweit zum Symbol für das Ende des Kommunismus wurde?

Ja, das tut schon weh. Der runde Tisch ist ein Möbelstück, das sich nicht gut als Symbol eignet. Der Solidarność-Schriftzug ist zu polnisch, Papst Johannes Paul II. wieder zu universal. Lech Wałesa zerstörte seinen Ruhm als Arbeiterheld in der Zeit seiner Präsidentschaft, dazu kamen später noch die Vorwürfe aus dem Institut des Nationalen Gedenkens, dass Wałesa als Spitzel IM „Bolek“ für die Stasi gearbeitet habe. Polen hat kein gutes Symbol. Aber es ist eben so: Es begann in Danzig.

Würde sich der runde Tisch als nationales Symbol für den friedlichen Übergang eignen?

Eher nicht. Denn mit dem runden Tisch sind zwei Mythen verbunden. Ein positiver vom friedlichen Übergang zur Demokratie und ein negativer vom angeblichen Verrat der Solidarność-Führer und einem Geheimpakt zwischen ihnen und den Kommunisten. Das ist natürlich Unsinn. Es sind auch nie irgendwelche Beweise aufgetaucht. Der runde Tisch ist zwar enorm wichtig, eignet sich aber nicht als Symbol. Alle Stürme überstanden hat dagegen der berühmte rote Schriftzug „Solidarnść“.

Sie haben 1989 das Wahlplakat mit Gary Cooper lanciert, das weltberühmt wurde.

Ich organisierte damals mit anderen die Wahlen für die Solidarność. Wir hatten nichts, kein Fernsehen, kein Radio, keine Zeitungen. Die Kommunisten hingegen hatten Zugang zu allen Massenmedien. Wir hatten Angst, die Wahlen zu verlieren, weil niemand wusste, wer zu uns gehörte. Bislang hatte die Opposition immer dazu aufgerufen, die Wahlen zu boykottieren. Diesmal sollten alle hingehen. Gesucht wurden Ideen für einprägsame Plakate und Flugblätter.

Aber ein Cowboy in Polen?

Heut findet im polnischen Parlament eine Tagung zum „Runden Tisch“ in Warschau statt. Am 6. Februar 1989 begannen an diesem Tisch Gespräche zwischen Solidarność-Aktivisten, kommunistischen Regierungsvertretern und drei kirchlichen Beobachtern. Dies markiert die Übergangsphase vom sozialistischen Staat zur demokratischen Republik. 58 Personen saßen am Tisch. Die Wiederzulassung der verbotenen Gewerkschaft Solidarność und Reformen in Wirtschaft und Politik standen auf der Agenda. Der „runde Tisch“ trat jedoch nur zweimal zusammen, zu Beginn und zum Abschluss der Verhandlungen im April 1989. Die entscheidenden Gespräche wurden in Arbeitsgruppen geführt.

Das war genial. Der amerikanische Cowboy stand für den Traum, in Polen einst so frei leben zu können wie im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Ich habe diese Idee eines Kunststudenten gegen meine Kollegen durchgesetzt. Heute erinnert dieses Plakat an den ersten großen Wahltriumph der Solidarność. Mit Gary Cooper haben wir die Wahlen gewonnen! Am Ende war Tadeusz Mazowiecki der erste nichtkommunistische Ministerpräsident in Polen und im gesamten damaligen Ostblock.

Was ist aus der Solidarność geworden?

Die Gewerkschaft gibt es bis heute, wenn sie auch stark geschrumpft ist und für andere Ziele kämpft als damals. Die Freiheitsbewegung zersplitterte sich in viele kleine und einige größere Parteien. Schon vor dem runden Tisch gab es einen ersten Bruch. Einige hielten es für falsch, sich auf Verhandlungen mit den Kommunisten einzulassen. Andere meinten, dass die Solidarność bereits 1981, als General Jaruzelski das Kriegsrecht über Polen verhängte, untergegangen war. Aber die Masse hielt nach wie vor zu Lech Wałesa, dem Arbeiterhelden von 1980. Als geschlossene Einheit siegte die Solidarność ein letztes Mal bei den ersten noch halbdemokratischen Wahlen am 4. Juni 1989.

Und die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei?

Löste sich auf, um sich wenig später unter anderem Namen neu zu gründen. Heute spielt die Herkunft aus dem Solidarność- oder Kommunistenlager aber kaum noch eine Rolle. Die linken Parteien haben wirtschaftsliberale Programme, und die rechten übernehmen schon mal die antideutsche Propaganda aus der kommunistischen Gomulka-Zeit. Was in Polen fehlt, ist eine echte sozialdemokratische Partei, der nicht das Odium des alten Sozialismus anhaftet, den niemand zurückhaben will.

Haben zwanzig Jahre Freiheit das deutsch-polnische Verhältnis verändert?

Die Beziehungen wurden immer besser. Aber seit einigen Jahren haben rechte Ideologen hüben wie drüben das Wort an sich gerissen und vergiften die Atmosphäre. Das ist schade. Wir sollten die Jüngeren ans Ruder lassen. Mit einer Versöhnungs- oder Verständigungsmission. Ich wäre sofort dabei.