„Bloß nicht runterschlucken“

Fotograf beißt einem NPD-Mann ein Ohrläppchen ab – Richter glauben nicht an Notwehr

Ein Jahr und 6 Monate Gefängnis, verkündet Cornel Christoffel routiniert. Dabei dürfte dem vorsitzenden Richter am Landgericht ein solcher Fall bisher nicht vorgelegen haben. Körperverletzungen verhandelt er häufig, doch selten ist diese Art der Verletzung: Dem Geschädigten fehlt ein Ohrläppchen – es wurde abgebissen.

Der Angeklagte wirkte gefasst. Vielleicht haben ihn die vielen Verhandlungstage abgehärtet. Vielleicht war er durch seine langjährigen Bewährungsstrafen – unter anderem wegen Landfriedensbruch – vorbereitet. Vielleicht ahnte er auch durch das vorhergehende Urteil des Amtsgerichts, was auf ihn zukommen kann: Letzten November verurteilte es Christian Jäger im selben Fall zu 2 Jahren und acht Monaten Gefängnis. Ohne Bewährung. Der 27-Jährige ist als Kurierfahrer und Fotograf tätig. Er ging in Berufung.

Begonnen hatte alles mit einem Anruf am 10. Oktober 2001. Berliner Landtagswahlkampf – mit dabei die rechtsextreme NPD. Der freie Fotograf wird von einem befreundeten Redakteur gebeten, zu einem Wahlkampfstand in Grünau zu fahren. Gegen 16 Uhr schoss er die ersten Bilder von den anwesenden Wahlkampfhelfern. Die sind der Polizei einschlägig bekannt. Der dienstälteste – Friedhelm Busse, 74 – wurde erst vor kurzem wegen Volksverhetzung verurteilt, genießt aber in Passau Haftverschonung. An diesem Nachmittag halfen ihm die NPD-Mitglieder Stephan Pfingsten und Werner Kossmann. Nach einigen Minuten kam es zu einem heftigen Wortwechsel, die NPDler hätten versucht, ihm die Kamera wegzunehmen, sagt Angeklagter Jäger. Dann seien Pfingsten und Kossmann auf ihn los. Mit einem Bügelschloss habe er die Männer „auf Distanz halten wollen.“ NPD-Mann Pfingsten bekam einen Schlag ab. Woraufhin sich Kossmann auf den Angeklagten stürzte. Und ihn „in den Schwitzkasten nahm.“ Der Biss wäre die einzige Möglichkeit gewesen sich zu befreien. So die Darstellung des Angeklagten.

Der Zeuge Kossmann erinnerte sich anders. Der Fotograf habe die friedlichen Wahlkämpfer als „Nazischweine“ beschimpft. Später habe ihn Jäger angesprungen und sich in sein linkes Ohr verbissen. Das sagte er vor dem Amtsgericht. In der zweiten Instanz korrigierte er sich. Ob dem Biss nicht doch ein „Schwitzkasten“ vorausgegangen sein könnte, will der Richter wissen. „Ja“, so der Geschädigte nun. Das nutzte Ulrich Klinggräf – Jägers Anwalt –, um auf die Unglaubwürdigkeit der Zeugen hinzuweisen. Er sieht hier einen „ideologisch motivierten Belastungseifer“, der sich unter anderem darin äußere, dass die Geschädigten seinen Mandanten als Teil der „Judenpresse“ bezeichnet haben.

Als wenig später die ersten Polizisten eintreffen, fühlen sich beide Seite gleichermaßen im Recht. Jäger zögerte jedenfalls nicht, auf die Beamten zuzugehen. Das nützte ihm wenig. Seine Ohren waren unversehrt – Kossmanns nicht. Dem fehlte das linke Ohrläppchen. Jäger hat es ausgespuckt. Sein erster Gedanke: „Bloß nicht runterschlucken!“

Mit seinen Fotos hat er die zahlenmäßig und körperlich überlegenen NPDler sicher genervt, räumt Anwalt Klinggräf im Plädoyer ein. Dennoch habe es sich um eine Notwehrsituation gehandelt. Grundsätzlich gelte hier „in dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten“.

Das Gericht folgte dieser Argumentation nicht, sondern ging von anfänglichen Beleidigungen durch Jäger aus. Der Angeklagte ist Bewährungsbrecher und habe bewusst provoziert, so der Vorsitzende Richter Christoffel. Als sich die Situation zuspitzte, soll Jäger einen spontanen Tatentschluss gefasst haben, der zu einer nicht unerheblichen Körperverletzung führte. Zumindest Letzteres ist offensichtlich. HANNES HEINE