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Biologie als Kulturkritik? Florianne Koechlin untersucht die Sprache der Pflanzen

Die Schweizer Biologin Florianne Koechlin hat nach ihrem Buch „Zellgeflüster“ (2005) nun einige neuere Pflanzenforschungsergebnisse zusammengetragen. Dazu interviewte sie Botaniker, Mikrobiologen, Bauern, Gärtner, Neurobiologen und Künstler. „Pflanzenpalaver“ heißt ihr neuer Reader. Koechlin hat unter anderem die „Rheinauer Thesen zu Rechten von Pflanzen“ zusammengestellt. Sie sind nun Grundlage dafür, dass der Schweizer Ethikrat beschließen möge, Pflanzen sind nicht länger eine „Sache“ – ein seelenloser Gegenstand.

Für Florianne Koechlin ist seltsamerweise die Malerei der „Zugang zu den Pflanzen“. Man kann diesen nahen Verwandten der Tiere und Menschen (erst vor etwa 500 Millionen Jahren trennte sich unsere Entwicklung, das heißt, drei Milliarden Jahre davor waren wir eins) alles zutrauen: Pflanzen können riechen, schmecken, fühlen, hören (Schallwellen wahrnehmen), ja sie können diese sogar gedanklich auswerten, denn an der Spitze jeder Wurzelfaser befinden sich Zellen, die „gehirnähnliche Funktionen“ wahrnehmen, wie der Bonner Biologe Frantisek Baluska meint. Darüber hinaus können sie noch vieles mehr, was wir nicht können, aber eines nicht, nämlich sehen.

Während die Menschen andererseits absolute Sehtiere sind: Unsere ganze Gesellschaft ist auf das Sehen hin orientiert – und dies zunehmend. Der Sozialphilosoph Ulrich Sonnemann sprach von einer „Okulartyrannis“, die es zu bekämpfen gelte, weil sie alle anderen Sinne und Sinneswahrnehmungen unterdrücke oder herabwürdige.

Ähnlich bezeichnet der Filmemacher Harun Farocki unsere Gesellschaft als eine, „die vollständig auf ihr Abbild hin organisiert ist“. Kurzum: Die Welt primär mit den Augen wahrzunehmen, ist eine schwere Behinderung. So wie eine allzu forcierte Intelligenzschulung jede soziale Empfindung erstickt. Bei der Entwicklung eines Einfühlungsvermögens, das sich auf (blinde) Pflanzen richtet, ist ein sorgfältig oder professionell kultivierter Augensinn geradezu ein Handicap.

Umgekehrt sind Blinde für den Umgang mit Pflanzen beziehungsweise für das Verstehen floralen Lebens besonders prädestiniert. Und so ist es eigentlich zu bedauern, dass die Pflanzenforscherin Florianne Koechlin sich mit Malerei beschäftigt und bisher keinen blinden Gärtner interviewt hat. Dabei scheinen immer mehr Blinde sich zur Beschäftigung mit Pflanzen zu drängen.

In England gibt es nicht nur viele lokale „Blind Gardener’s Clubs“, sondern auch einen nationalen Gartenführer für Blinde und einen „Blind Gardener of the Year“-Wettbewerb. Ähnliche Aktivitäten kennt man auch in den USA.

In Deutschland gibt es in vielen botanischen Einrichtungen „Duft- und Tastgärten“ sowie auch spezielle „Blindengärten“. In Radeberg bei Dresden hat die blinde Pastorin Ruth Zacharias ihren 14.000 Quadratmeter großen Privatgarten für andere Sehbehinderte zugänglich gemacht. „Es gibt ein Menschenrecht auf Duft“, meint sie, „die Nase kann 10.000 Nuancen unterscheiden“.

Und erinnern wir uns, wie Blinde sich im Straßenverkehr verhalten: indem sie mit ihrem Stock kreisende Bewegungen auf dem Boden vollführen, um etwaige Hindernisse aufzuspüren. Genau solche Kreisbewegungen unternehmen auch Kletterpflanzen, um auf diese Weise an eine Mauer oder einen Baum zu stoßen, an dem sie sich dann hochranken.

Und noch etwas haben Blinde und Pflanzen gemeinsam: Ihr mangelndes oder fehlendes Sehvermögen kompensieren sie dadurch, dass ihre anderen Sinne weitaus stärker entwickelt sind als die der Nichtblinden. Derart kann man sie gut und gerne als Widerständler gegen die Okulartyrannis bezeichnen.

Anders gesagt: Blinde sind die natürlichen Bündnispartner der Pflanzen. Wohingegen alle sehenden Pflanzenforscher im Dunkeln tappen. Schlimmstenfalls machen sie dabei nur eine wissenschaftliche Karriere – auf dem Rücken von Pflanzen quasi, die sie dann auch noch als simple „Reiz-Reaktions-Maschine“ begreifen.

So wie ein Forscher des Max-Planck-Instituts für Chemische Ökologie in Jena, den Florianne Koechlin interviewte, der aber dennoch Interessantes über die olfaktorische Kommunikation von Pflanzen herausfand, wie ebenso der Pflanzennutzer Sepp Holzer, ein alpenländischer Bauer.

Und bestenfalls entwickeln sie dabei trotzdem eine gewisse florale Sensibilität – so wie etwa Doktor Zepernick vom Botanischen Garten Berlin, als ich ihm einmal während eines Interviews eine Zigarette anbot, die er jedoch ablehnte mit der Bemerkung: „Nein, also Pflanzen verbrennen, das kann ich nicht, können wir alle nicht – bis auf eine Kollegin sind alle Wissenschaftler hier Nichtraucher, eigentlich merkwürdig.“HELMUT HÖGE

Florianne Koechlin: „Pflanzenpalaver. Belauschte Geheimnisse der botanischen Welt“. Lenos Verlag, Basel 2008, 237 Seiten, 19,90 Euro