EU-Verfassung gefährlich liberal

Bislang ging die Gefahr für die staatliche Aufgabe Bildung und Kultur von der Welthandelsrunde Gats aus, dachten die Globalisierungkritiker. Tatsächlich ist auch der Entwurf einer Verfassung für die EU offen für den Handel mit Bildungsgütern

von KARL-HEINZ HEINEMANN

Die Globalisierungskritiker hatten schon an einen Erfolg geglaubt. Im Frühjahr erklärte die Europäische Union, dass sie nicht daran denke, bei den laufenden Welthandelsgesprächen über freie Dienstleistungen (Gats) Zugeständnisse in Sachen Bildung zu machen. Das hieß: Der Handel mit Bildungsgütern hätte in Europa keine Chance.

Doch die Kritiker des Welthandels haben sich zu früh gefreut. Denn wenn die neue europäische Verfassung in Kraft tritt, muss sich Europas Regierung nicht darum scheren, was die Mitgliedstaaten denken. Über den Warencharakter von Kultur, Bildung oder öffentlichen Büchereiangeboten würde die EU-Kommission weitgehend selbst entscheiden. Der Entwurf des europäischen Verfassungskonvents sieht vor, mehr Kompetenzen nach Brüssel zu verlagern. Handelsfragen zum Beispiel sollen ausschließlich Angelegenheit der Union sein – und die ist verpflichtet, internationale Handelsbarrieren abzubauen. So steht es schon im seit 1999 gültigen Nizza-Vertrag der EU. Im aktuellen Verfassungsentwurf wird der Handel mit Dienstleistungen und geistigem Eigentum ausdrücklich zum Gegenstand der Handelspolitik der Europäischen Union; das bedeutet, er wird der Verantwortung nationaler Regierungen und Parlamente entzogen.

Im Prinzip wird heute mit allem gehandelt, mit Strom und ärztlicher Behandlung ebenso wie mit Kunstausstellungen, Theateraufführungen, Filmen, Schulen und Internetkursen. Für all das wäre also die EU zuständig – denn es sind ja Handelsthemen.

Die Mitgliedstaaten haben zwar noch immer exklusive Kompetenzen für Gesundheit, Kultur, Bildung, Sport und Jugend. Geht es aber um den Handel mit Gütern und Diensten aus diesen Bereichen, so ist darüber in einem eigens dafür gebildeten Konsensgremium abzustimmen, dem so genannten 133er-Ausschuss. Dort gilt Einstimmigkeit. Das Einstimmigkeitsprinzip haben Frankreich und Belgien in das Nizza-Abkommen bugsiert. Die Franzosen wollen ihre Filmindustrie schützen, Belgien muss das komplizierte Gleichgewicht von Flamen und Wallonen wahren. Letztlich waren es weniger die Proteste der Anti-Gats-Kampagne als vielmehr dieses Einstimmigkeitsprinzip, das Pascal Lamy, den Handelskommissar der EU und vehementen Liberalisierungsbefürworter, zurückstecken ließ. Also ging er ohne ein neues Liberalisierungsangebot in die neue Gats-Runde, denn an der Gegnerschaft Frankreichs kam er nicht vorbei. Ist die neue Verfassung allerdings in Kraft, so ist Einstimmigkeit nur noch in bestimmten Einzelfällen gefordert – und auch dann nur, wenn „die kulturelle und sprachliche Vielfalt in der Union beeinträchtigen werden könnte“. Von Bildung ist gar nicht mehr die Rede.

Das könnte auch Auswirkungen auf die aktuelle Gats-Runde haben. Denn die USA und andere Länder fordern von der EU, dass sie ihre vertraglich fixierten Vorbehalte aufgibt. Einer der Vorbehalte lautet, dass Dienstleistungen im hoheitlichen Interesse wie die Grundversorgung mit Bildung, Information oder Kulturgütern in Europa der Staat erledigen darf. Mit anderen Worten: Die EU-Mitgliedstaaten entscheiden politisch, welche Schulen, Krankenhäuser und Museen sie subventionieren und welche nicht. Ein Stück demokratischer Souveränität also. Den Vorbehalt, der diese Souveränität sichert, hätte freilich nicht nur Pascal Lamy, der Handelskommissar, sondern auch mächtige Interessengruppen in der EU geopfert.

Der deutsche Außenminister, Joschka Fischer (Grüne), der für die Bundesrepublik im Konvent saß, interessierte sich überhaupt nicht für das Kapitel Bildung. Im Unterschied zum baden-württembergischen Ministerpräsidenten Erwin Teufel (CDU), ebenfalls Konventsmitglied. Der mahnte die Kompetenz der deutschen Bundesländer für Bildung und Kultur an – ohne letztlich deren Übertragung im Falle von Handelsfragen an die EU verhindern zu können.

Für die Kulturhoheit bliebe also nur die Regel, dass Einstimmigkeit immer dann gefordert ist, wenn die kulturelle und sprachliche Vielfalt Europas in Gefahr ist. Das aber ist, juristisch gesehen, Wischiwaschi. So sagt es Franz-Josef Stummann. Er ist als Generalsekretär der Versammlung der europäischen Regionen in Straßburg natürlich an der kulturellen und sprachlichen Vielfalt interessiert. Bloß, wer stellt die Beeinträchtigung fest?

In Deutschland ist Kultur und Bildung Ländersache, was geschieht also, wenn Bayern oder Bremen seine sprachliche und kulturelle Eigenständigkeit in Gefahr sehen? Würde die völlige Öffnung des Hochschulsektors für private und ausländische Anbieter etwa die sprachliche Vielfalt beeinträchtigen? Und: Muss die mögliche Bedrohung vor Beginn der Verhandlungen festgestellt werden oder erst, wenn das fertige Gats-Abkommen auf dem Tisch liegt?

Hinter den Veränderungen im Kleingedruckten der EU-Verfassung stecken nach Ansicht vieler handfeste politische Absichten. Die PDS-Vertreterin im Konvent, Sylvia-Ivonne Kaufmann, oder auch Ministerpräsident Teufel schlugen vor, den Handel mit Gesundheit, Bildung, Medien und Sozialdienstleistungen weiter durch Einstimmigkeit zu schützen. Die liberalisierungsfreundliche Mehrheit lehnte dies jedoch ab.

Tritt die so veränderte Verfassung in Kraft, dann haben die EU-Mitglieder, in Deutschland und Österreich die Bundesländer, Bereiche ihrer Kulturkompetenz an die EU abgetreten. Ihr Umfang ist noch gar nicht absehbar. Denn im Prinzip kann alles Handelsobjekt werden. Die Finanzierung von Hochschulen und Schulen, die Einführung von Studiengebühren oder Gutscheinsystemen, die Subventionierung von Theatern und Museen – alles ist vorstellbar. Was im Laufe der Verhandlungen von Gats auf den Tisch kommt, weiß man noch nicht. Es ist auch völlig offen, welche Deals geschlossen werden – wer Agrarsubventionen erhält, dafür den Hochschulmarkt öffnet, die amerikanische Testingagenturen zulässt, dafür die US-Stahlzölle abbaut. All das ist nicht das Hirngespinst von Globalisierungskritikern, sondern die ausdrückliche Handlungsmaxime der Welthandelsorganisation. Die will vom Freihandel mit Gütern bis zu den Urheberrechten ein großes Paket schnüren, was nur als ganzes angenommen oder abgelehnt werden kann. Der Abschluss der Verhandlungen liegt bei Ende 2004, könnte sich aber auch um Jahre verzögern. Die letzte Welthandelsrunde der WTO dauerte über zehn Jahre.

Nun kommt es nur darauf an, welche der beiden Mammut-Institutionen schneller vorankommt – die WTO oder die EU. Denn auch die EU-Verfassung ist noch nicht beschlossen. Ihr gleichfalls offener Abschluss ist bislang für 2006 vorgesehen.