30 Füße im Watt

Fahrt ans Meer: Mit Erstklässlern an die Waterkant nach Cuxhaven/Salenburg. Der Schlick reicht bis zum Knie, das Watt bis an den Horizont

„Hey, schaut mal“, sage ich und zeige auf die Eiskarte: „Das Spaghetti-Eis heißt hier Wattwurmkackeis. Da steht’s!“ 15 konsternierte Kindergesichter. „Echt jetzt?“

Aus Cuxhaven Elke Heyduck

Es gibt solche und solche: Die einen balancieren auf Zehenspitzen durch den Matsch und rufen „Ihiiiihhhhhhhhh“, wenn der große Zeh vermeintlich eine Krabbe streift. Die anderen laufen mit festem Forscherblick ins Blau-Grau-Weite und rupfen interessiert die Krebsbeinchen von den leblosen Panzern. „Hey, ich hab wieder eine, die stinkt schon ganz doll.“ Mit 15 Erst- und Zweitklässlern an die Nordsee, ins Watt, ans Meer. Das ist schon einen Ferienaufsatz wert.

„Mein Sohn fährt leider nicht ohne mich mit.“ Mit diesem Satz war mein Schicksal besiegelt. Der professionellen – und deshalb recht kostspieligen – Zweitkraft wird prompt und telefonisch abgesagt. Stattdessen avancieren ich und noch ein Vater zu pädagogischen Begleitpersonen unserer Hortgruppe. Drei Tage Salenburg bei Cuxhaven. Vollpension im Haus Stella Maris. Na dann.

Während aber bei den echten Zweitkräften eine gewisse Neigung zum Kinde Bedingung ist, war ich mir da nicht so sicher. Einzelne Kinder, okay. Die können sehr nett sein. Und lustig. Aber 20? Eine Kindergruppe, die im Speisesaal laut: „Das schmeckt aber scheiße!“, „Ich geh schon mal raus!“, „Ich brauch mir die Hände nicht waschen, die sind sauber!“, durcheinander krakeelt. Würde ich das und anderes aushalten, ohne mindestens Phantasien von der Wiedereinführung der Prügelstrafe zu haben?

Gemischte Gefühle beim Losfahren. Von den 20 Hort-Kindern kommen nur 15 mit. Bei den einen war die Klassenfahrt so doof, dass sie nicht schon wieder verreisen wollten, bei den anderen mag wohl die Angst der Eltern eine Rolle gespielt haben. Immerhin, wir fahren nach Cuxhaven: Hier wurde und wird das Mädchen Levke vermisst. Für die 15, die mitfahren, gilt: keins je aus den Augen lassen.

Wir kommen an am Mittwochmittag. Der Herbergsvater sieht aus wie die Karikatur eines Herbergsvaters: Vollbart, dunkle, graubraune Kleidung, blasse Haut. Keine Spur von Humor. „Ja, dann folgen Sie mir mal. Und Kinder, bitte denkt dran: hier sind auch noch andere. Andere Kinder – und Senioren. Also bitte nicht auf den Gängen toben.“ Und los geht’s: Die Betten von 15 Kindern beziehen, die Schränke von 15 Kindern einräumen. Erstes Trösten. Kleine Dramen: „Ich hab aber keine Bettwäsche dabei“, und große Dramen: „Mein Kuscheltier ist im Bus geblieben.“ Dann: Eincremen. 15 blasse Kinderleiber im Akkord für die Nordsee präparieren. Zwei Stunden nach Ankunft stehen wir am Meer. Aber wo ist das Wasser?

Manche sehen doch glatt zum ersten Mal das Watt. Was sind das für Würmer? Wann kommt die Flut? Tun die Krebse weh? Und wo ist hier das Klo? Die Sonne scheint. Am Horizont wie aufgefädelt ein Trupp Reiter auf dem Weg von Cuxhaven zur Insel Neuwerk. Der Sand ist warm, das Watt voller Geheimnisse. Glückliche Kinder, glückliche Betreuer. Kleine Forschergrüppchen stiefeln weit hinaus, hocken sich ins Watt und pulen endlos lang mit kleinen Stöckchen an derselben Stelle: Meditation für Kinder. Als das Meer endlich wiederkommt, ist kein Halten mehr. Alle laufen ins Wasser, planschen, spritzen, kreischen – die Hortleiterin dazu. Wir Zweitkräfte liegen am Strand, lauschen dem von der Entfernung gedämpften Kindergeschrei und denken: Schön, so ein Leben als Zweitkraft.

Auf dem Rückweg vom ersten, gelungenen Tag gehen wir – klar – ein Eis essen. Hach, wie schön kann man kleine Kinder verschaukeln. „Hey, schaut mal“, sag‘ ich und zeige auf die Eiskarte: „Das Spaghetti-Eis heißt hier WATTTWURMKACKEIS. Da steht’s!“ 15 konsternierte Kindergesichter. „Echt jetzt?“ Die meisten lassen sich den (Eis-)Bären doch glatt aufbinden. Aber ein, zwei schauen dann doch genau auf die Karte und entziffern S-P-A-G-H-E-T-T-I-E-I-S. „Stimmt ja gar nicht!“ „Gut“, sag‘ ich, „ich wollte euch ja nur ein bisschen verscheißern.“ Es regnet erste Komplimente: „Du bist lustig, das ist schön“, „Du bist fast so nett wie meine Mama.“ Aaahhh, das geht runter wie Honig. Also komplimentiere ich zurück: „Ihr seid auch so lustig. Mit euch kann man tolle Witze machen“, und so weiter und so fort. Am nächsten Tag treiben alle in der Eisdiele die Scherze weiter und bestellen „Bratkartoffel-Eis“, „Nudelsuppen-Eis“, „Labskaus-Eis“ und was man sich sonst so als nordseedeutsches Pendant zum Spaghetti-Eis ausdenken kann. Prima, so ein Ausflug mit Kindern.

Die erste Nacht im Haus Stella Maris. Bettbring-Akkord. „Schlafi“ anziehen, Hände waschen, Zähne putzen, Kuscheltier suchen. „Aber meins ist im Bus“, schluchzt Clara und das Elend ist riesengroß. Also aus Lieblingspullis und bunten Bändern ein Kuschel-Etwas geschnürt. Gott sei Dank. Es funktioniert. Die Nächte sind ansonsten ruhig, die Tage lang und sonnig und voll von schönem „Sachenmachen“, wie wir es nennen. Schnitzeljagd durch den nahen Wald, Watt-Museumsbesuch mit Wattwurmkackanalyse, Muscheln sammeln, Krabben pulen. Eine mehr als gelungene Ausfahrt, eine wunderbare Gelegenheit, 15 Kinder aus der Nähe zu erleben. Aus den gemischten Wegfahr-Gefühlen ist die ungeteilte Einsicht geworden: Das würde ich jederzeit wieder machen.

P.S. Im Speisesaal haben sich unsere Kleinen ganz vorbildlich benommen.