Am schönsten ist das Meer

Der Charme Nizzas liegt weniger in seiner Architektur als in den Geschäften und dem quirligen Leben in der Altstadt verborgen. Weinhandel, Gewürzläden und die typische Kichererbsenspeise Socca geben der Hafenstadt ihr unverwechselbares Flair

VON JOSEF H. MAYER

Gleich viermal in der Woche kommt die Müllabfuhr, um aus den offenen Kübeln vor den Hauseingängen die dicken, stinkenden Plastikbeutel zu entleeren. Schon in aller Herrgottsfrühe sind auch gelb befrackte Straßenfeger mit ihren Karren unterwegs. Unter Einsatz der guten, alten Reisigbesen reinigen sie die Trottoirs hauptsächlich von Hundekot. Denn in kaum einer anderen europäischen Stadt kringeln sich die Hinterlassenschaften der unzähligen Schoßhündchen auf den Bürgersteigen so schamlos wie in Nizza. Eine fatale Situation für Fremde, die lieber forschend um sich blicken als ausgerechnet dorthin, wohin sie ihren Fuß setzen.

In der rue Marceau, einer etwas heruntergekommenen Straße auf dem Weg vom Bahnhof zum Chagall-Museum, sitzen im ehemaligen Restaurant an der Ecke zur besseren rue Villermont schon morgens dunkelhäutige, grau gekleidete Männer wie frierend eng beieinander und schlürfen Mokka aus kleinen Gläsern. In den Läden, die weit bis in die Nacht geöffnet bleiben, wird Hammelfleisch und süßes orientalisches Gebäck angeboten. Zwei Häuser weiter, auf der gegenüber liegenden Straßenseite sieht man hinter der Schaufensterscheibe Schüsseln mit fertig gekochten Reis- und Gemüsegerichten. Ein jüngeres schwarzes Paar wartet hinter dem Vorhang aus langen, bunten Plastikstreifen auf Kunden.

Eine ernste Stimmung liegt wie ein Haarnetz über der Stadt und hält alles zusammen. Die Menschen der Côte d’Azur bestätigen so gar nicht das Klischee vom leichtlebigen, fröhlichen Südfranzosen. Das lächelnde Charmieren, die lauten Scherze, die derben Flüche, typisch für viele Bewohner rund ums Mittelmeer, gibt es hier nicht. Auch nicht das wüste Hupen im dichten, stockenden Straßenverkehr.

Die lange, breite Seepromenade an der weit geschwungenen Bucht Nizzas liegt an einer viel befahrenen achtspurigen Autotrasse, die in der Mitte durch einen Blumen- und Grünstreifen geteilt ist. Die paar schönen Hausfassaden im üppigen Fin-de-Siècle-Stil, allen voran die des frühen Feudalhotels „Negresco“, oder etwa die im Wind auffächernden Palmen, der helle Kieselsteinstrand, an dem sich barbusige Mädchen sonnen, können die Attraktion Nizzas nicht sein. Das Faszinierende an Nizza und übrigens an der gesamten Mittelmeerküste ist die Farbe des Meeres, tatsächlich ein reines, stetiges Azurblau, perfekt, nur einen Ton dunkler als der Himmel, der am Horizont auf die See trifft.

In der kleinen, schattigen Gassen der Altstadt Nizzas herrscht der übliche Touristenrummel. Aber nicht nur. Unter einem hohen, dunklen Gewölbe befindet sich ein alteingesessener Weinhandel mit alten Fässern und riesigen, bis zur Decke reichenden Regalen, an der nächsten Ecke ein Gewürzladen mit kleinen, offenen Säcken, aus denen rote und gelbe Pulver in allen malerischen Varianten ragen, diverse Curry-, Safran- und Pfefferarten. In der Pattiserie warten leckere, handtellergroße Törtchen, butterbepinselt und bunt glasierte Petits Fours vornehmlich auf einheimische Kundschaft.

Riesig ist der täglich stattfindende Gemüse- und Blumenmarkt. An einem Stand sechs Sorten Zwiebeln und Kartoffeln, am nächsten acht Meter Grünzeug, alle möglichen Kräuter und Salate, vier Sorten Artischocken, dann zehn Meter Obst, ein kleinerer Stand mit auf vielfältige Weise eingelegten Oliven, ein weiterer nur mit Ziegenkäse.

Kulinarische Touristenattraktion in der Altstadt ist die berühmte Socca, ein würziger, gelber Brei aus Kichererbsenmehl, der so lange kross gebraten wird, bis er an den Rändern beinahe verkohlt. Früher in Nizza das Armeleuteessen, heute auf dem Pappteller eine preiswerte Alternative zur Pizzaschnitte. Dazu vielleicht ein Gläschen heimischen Wein, der zumeist ein Rosé aus der Provence ist.

Die Reichen und angeblich Schönen, deren Feriendomizil man an der Côte d’Azur und hier auch in Nizza landläufig vermutet, sind nicht zu sehen. Vielleicht zufällig. Sie machen sich aber auch nicht rar, denn zumindest die Attribute ihres Luxus und Reichtums bieten sie zur Bewunderung dem gemeinen Volk mit rituellem Protz dar. In Reih und Glied strecken die zwei- oder dreistöckigen Megajachten am alten Hafen den Flaneuren ihre breiten Hinterteile entgegen. An nicht wenigen der schneeweißen oder blauschwarzen Schiffe mit ihren großen Spiegelglasfenstern weht die blutrote Seeausfertigung des britischen Union Jack. Ihre Heimathäfen sind London oder Gibraltar.

Gegen fünf Uhr nachmittags strömen mehr Autos über die promenade d’Anglais in die Stadt hinein als heraus. „Bouchon“ heißt der Stau hier. Vor mir ein roter Opel Corsa mit korsischen Symbolen als Aufkleber, einem schwarzen Kopf mit Stirnband und der Inselsilhouette mit ihrem fingerartigen Kap im Norden. Der Fahrer des Corsa, ein junger Mann, schließt nicht regelmäßig zur Kolonne auf, was mich so nervt, dass ich mich bei nächster Gelegenheit vor ihn setze. Da springt der aus seinem Kleinwagen, rennt zu meiner Fahrertür, schreit vor Wut, versucht die Tür aufzureißen, die ich – Gott sei Dank – zentralverriegelt habe, und klopft sich die Knöchel an meinem Autofenster wund. Auf der avenue Malausséna hastet derweil ein langbärtiger Jude mit markantem schwarzem Hut die vielen Geschäfte entlang. Fast eine Figur aus den Bildern Marc Chagalls.