Dr. Sarrazins Liebe zur Beleidigung

„Du Arschloch hast es endlich geschafft, den Sozialstaat zu ruinieren“

aus Berlin ROBIN ALEXANDER

Über lange Gänge schleicht man in der Berliner Senatsverwaltung für Finanzen, vorbei an den Türen von Beamtenbüros, die aussehen, als stoße man hier auf das laufbahngemäße Erreichen der nächsten Besoldungsstufe nur mit Mineralwasser an. Auch in Zimmer 1133 – Finanzsenator, Dr. Thilo Sarrazin – steht ein nach der Landesbeschaffungsverordnung angeschaffter Schreibtisch, der schon vor über zehn Jahren den Umzug der Behörde von West- nach Ostberlin miterlebte. Sarrazin, 58, grauer Oberlippenbart, zeitloser blauer Anzug, passt optisch in diese Umgebung. Nur optisch. Denn was er über Berlin sagt, ist keineswegs fad: Hier wurden Wohnungen immer schon überteuert gebaut. Hier strotzen die Vorlagen der Sachbearbeiter vor Kommafehlern. Hier riechen die Beamten übel aus dem Mund. Hier kontrollieren die Lehrer die Hausaufgaben nicht. Hier lesen die Erzieher in den Kitas keine Märchen vor. Hier wird nicht ordentlich geputzt. Hier schlurfen die Menschen im Trainingsanzug durch den Tag. Alles O-Töne.

Sarrazin und sein Pressesprecher hatten eine Abmachung: Der Sprecher tritt dem Senator auf den Fuß, wenn der zu viel Klartext redet. Der Senator ignoriert den Tritt dann und redet weiter. Sein Sprecher hat sich vor kurzem einen verschwiegeneren Arbeitgeber gesucht. Er wechselte zum Verfassungsschutz.

In 1133 sitzt Sarrazin nun mit der Ersatzpressesprecherin und erklärt, warum er die Leute so beschimpft. „Politische Kommunikation muss in ihrem Kontext bewertet werden.“ Meint: Die Berliner sind so ignorant, dass man sie nur mit Beleidigungen erreicht. Sind sie aufgeschreckt, hören sie von Sarrazin Binsenweisheiten: „Wir dürfen nicht mehr ausgeben, als wir einnehmen. Aber wir geben zu viel aus.“ Das beweist Sarrazin mit Zahlen. Aus Zahlen kann jeder seine Schlüsse ziehen. Keine Aussage, die er nicht mit Indices und Vergleichswerten belegt. Der Lerneffekt wäre niedriger, wenn die Menschen nur Vorgegebenes wiederholen würden. Zahlen sind Sarrazins Argument, sein Instrument ist der Overheadprojektor. Keinen Vortrag hält er ohne dieses Mittel, das in Ostberlin Polylux heißt.

Beleidigungen und Folien. Das ist das Methodenrepertoire des Lehrers Sarrazin. Er ist ein Pädagoge aus Passion. Keiner dieser Jeans- oder Cordhosenträger, die um das Potenzial jedes einzelnen Kindes kämpfen. Sarrazins Leidenschaft gilt nicht den Schülern, sondern der Lehre. Die ist eben: Nur Verdienst kann ausgegeben werden. Subvention führt zu Schlendrian. Mit einem solchen Weltbild lassen sich Richtig und Falsch einfach auseinander halten. Sarrazin sieht nicht aus wie ein Mensch, der von Zweifeln geplagt wird.

Vor anderthalb Jahren ist ihm der Job übertragen worden, den Berlinern die Grundrechenarten beizubringen. Eigentlich ist der, der hier doziert wie ein Professor, nur als Kassenwart angestellt. Aber die Kasse ist einigermaßen in Unordnung. 50 Milliarden Euro Schulden hat Berlin. Eine Summe, die eher zu einem Nationalstaat als zu einem kleinen Bundesland passte. Sarrazins Aufgabe ist es, die überhohen Berliner Ausgaben so weit zu kürzen, dass das Bundesverfassungsgericht guten Gewissens die Bundesregierung zur Übernahme der Schulden ihrer Hauptstadt verdonnern kann. Geklagt wird im September.

Haben Sie bisher genug eingespart, Herr Senator? Sarrazin zeigt eine kleine Tabelle, die er sich am Wochenende zu Hause an seinem Heimcomputer gebastelt hat: „Im Sozialetat habe ich nur 160 statt 450 Millionen geholt. Bei den Kitas dafür 60 Prozent. Bei den Schulen immerhin ein Drittel. Bei der Kultur 46 Millionen statt 70.“

Während die Ersatzpressesprecherin erbleicht, weil Sarrazin gerade seine internen Kalkulationen ausplaudert, schlüsselt dieser ungerührt den jüngsten Berliner Doppelhaushalt nach Erfolg und Misserfolg auf: „Zwei Milliarden wollte ich rausschneiden. Eine Milliarde habe ich erreicht.“ Der Doppelhaushalt für die Jahre 2004 und 2005, aus dem Sarrazin vorträgt, wird im Herbst beschlossen. Er ist die wichtigste Entscheidung der rot-roten Koalition. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) glaubt, nur wiedergewählt zu werden, wenn er es schafft, die Finanzen in Ordnung zu bringen. Deshalb duldet er Sarrazin.

Aber ist diese Politik nicht schon überholt? Hat Bundeskanzler Schröder die Neuverschuldung nicht als politisches Instrument rehabilitiert? Ach was! Caesar non est supra grammaticos. Weil ein Kanzler flattert wie ein Fähnchen im Wind, wird wahre Lehre nicht falsch. Die ist nämlich zeitlos. „Schon als ich junger Referent war, ging es um die gleichen Themen wie heute: Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Abgabensenkung, Demografie“, erzählt Sarrazin. Zuständig dafür war der mächtige Bundesminister für Arbeit und Soziales, Herbert Ehrenberg. Sarrazin, damals knapp über 30, suchte seine Nähe, bekam einen Job als Redenschreiber und wurde enttäuscht: „Unter dem Druck des Amtes wandelte sich Ehrenberg vom Ökonomen zum Sozialpolitiker.“

Der junge Aufsteiger wechselte nach drei Jahren frustriert die Seiten und heuerte im Stab des Finanzministers Hans Hermann Matthöfer an. Der teilte Sarrazins Weltsicht. Und demonstrierte, wie man sie durchsetzt. Der Uraltsozi Matthöfer hatte die instruierende Wirkung des Overheadprojektors in der Erwachsenenbildung der IG-Metall kennen gelernt und schwor auf die Folien: „Wir müssen alles grafisch zeigen, sonst versteht das keiner.“ Auf einer SPD-Fraktionssitzung im Juli 1981 überfielen Matthöfer und sein Referent Sarrazin die umverteilungsverliebten Sozialpolitiker. Der Senator liebt diese Erinnerung: „Ich habe die Folien aufgelegt. Matthöfer hat vorgetragen. Kanzler Schmidt hat diskutiert. Wehner hat gebrüllt. Dann stimmte die Mehrheit für Einschnitte von 20 Milliarden.“ Die Methode hat sich so wenig verändert wie die Lehre. Matthöfer beschäftigte noch eigene Zeichner, heute stellt Sarrazin seine Folien mit dem Computer her. Damals sprach der düpierte Sozialminister Ehrenberg seinen ehemaligen Mitarbeiter Sarrazin nach der Fraktionssitzung ein letztes Mal an: „Du Arschloch hast es endlich geschafft, den Sozialstaat zu ruinieren.“

Hans Eichel wird von seinen Genossen nicht mit Fäkalausdrücken beschimpft. Sarrazin kennt den unglücklichen Bundesfinanzminister gut: Der hat ihn einst als Manager der Treuhand-Liegenschaftsgesellschaft quasi gefeuert. Eichel wollte Grundstücke im Osten schnell zu Geld machen, Sarrazin hielt das für unseriös. Ähnliches passierte bei der Bahn AG, wo Sarrazin anschließend zwei Jahre Manager war. Bahnchef Mehdorn wollte Steuergeld schnell verbauen, Sarrazin hielt das für unseriös. Beide Male musste Sarrazin gehen.

Trotz dieser Erfahrung wirft Sarrazin Eichel vor, ein Weichei zu sein: „Man darf sich als Finanzminister niemals scheuen, auch politische Alternativen für die Fachressorts zu benennen.“

Sarrazin streitet in jeder Fachdiskussion mit. Als wäre er Bildungs- und Sozialpolitiker, Stadtplaner und Polizeiexperte in einem. So einer schafft sich viele Feinde. Gegen die Baumafia erkämpfte er den Ausstieg aus einer absurden Berliner Praxis des sozialen Wohnungsbaus. Letzte Woche kassierte ein Gericht Sarrazins Plan. Nun will der Stadtentwicklungssenator verhandeln, Sarrazin aber will „weiterkämpfen bis in die letzte Instanz“.

Gegen die Kulturmafia holte Sarrazin sich gleich eine blutige Nase: Berlin wird auch weiter drei Opern betreiben. Ein glücklicher Kultursenator verabschiedete sich schief vor lauter Schulterklopfen in die Sommerfrische, während Sarrazin noch immer sauer Zeitungsartikel kopiert, in denen die Opern schlecht gemacht werden. Verlieren gehört nicht zu seinen Stärken.

Viele in Berlin meinen, Sarrazin habe seine entscheidenden Siege und Niederlagen bereits erfochten. Er selbst meint, er fange erst an. „Ein Beuys hatte auch nicht das Ziel, die Hausfrauen in Köln-Lindenthal zu erreichen, sondern die Kunstszene.“ Tatsächlich kommt Sarrazin in den Korrespondentenberichten der Frankfurter Allgemeinen besser weg als im Lokalteil der Berliner Morgenpost.

Ist Sarrazin bewusst, dass eine Politik, die seiner Lehre folgt, nicht nur fiskalische Folgen hat? Er antwortet: „Wenn Sie eine Tür mit der Brechstange öffnen müssen, können Sie nicht nach dem anschließenden Reparaturaufwand des Tischlers fragen.“ Die Tischlerin heißt Heidi Knake-Werner, 60, früher DKP, heute PDS und Sozialsenatorin, die sich als „natürliche Gegenspielerin Sarrazins“ sieht. Er ist kein leichter Gegner: Ohne die Sozialsenatorin auch nur zu informieren, stimmte Sarrazin in einem Gremium des Bundesrates dafür, die Sozialhilfe nicht länger an steigende Löhne anzupassen. Trotzdem schätzt ihn Knake-Werner. Er trenne zwischen „Rolle und Person“. Zum Geburtstag der Sozialsenatorin schenkte der Mann, der sich als unsensibler Plattmacher geriert, seiner Kollegin Gedichte des chilenischen Kommunisten Pablo Neruda. Illusionen über Sarrazin macht sie sich trotzdem nicht: „Seine Definition von sozialer Gerechtigkeit ist: Wenn es den Beschäftigten schlecht geht, muss es den Sozialhilfeempfängern noch schlechter gehen.“

Dem widerspricht Sarrazin nicht. Im Gegenteil: Er empfiehlt eine Sozial- und Gesundheitspolitik im britischen Stil: Der Staat garantiert höchstens trocken Brot. Wer Butter drauf will, muss jeden Job annehmen. Wer mit 75 noch eine neue Hüfte will, muss sich rechtzeitig privat versichern.

Das ist, trotz Agenda 2010, nicht unbedingt Konsens in der SPD. Deshalb stöhnen die Genossen zunehmend über „unseren Thilo“, der in jüngster Zeit auffällig oft nicht nur über Berliner Probleme redet. Auch Heidi Knake-Werner, die ihm gewogene Gegnerin, sorgt sich: „Er ist dabei, seine Rolle zu überziehen.“ Trotz erster Warnsignale will Sarrazin im September eine Haushaltrede halten, die deutlich politischer wird als alles, was man bisher von ihm gehört hat.

Dabei erinnern sie sich in Berlin noch heute an Sarrazins erste Haushaltsrede vor gut einem Jahr. Kurz nach der Amtsübernahme stellte er lakonisch fest, der Etat sei „objektiv verfassungswidrig“. Die Opposition johlte, Wowereit versteinerte, und ein Senatsmitglied blaffte den vom Rednerpult auf die Regierungsbank zurückgekehrten Sarrazin an: „Sie haben doch wohl den Vollknall!“ Er hat geantwortet: „Das musste doch einmal gesagt werden.“