In Braunschweig gähnt ein Loch

Trotz Ingo Schultz und Andrea Bunjes: Leichtathletik ist im Norden nur noch Randsportart. Die Athleten trainieren lieber in Ost- oder Südwestdeutschland. Dass dort die Musik spielt, zeigten die deutschen Meisterschaften am vergangenen Wochenende

Aus BraunschweigPeter Ahrens

Der Ort war gut gewählt. Das Stadion an der Hamburger Straße in Braunschweig hat schon bessere Tage gesehen, damals in den 70ern, als Danilo Popivoda und Paul Breitner noch Bundesliga-Fußball zelebrierten. Jetzt kickt die heimische Eintracht mediokren Regionalligafußball, und Parallelen zur norddeutschen Leichtathletik sind nicht weit herzuholen. Bei den deutschen Meisterschaften am Wochenende in Braunschweig waren Athleten aus dem Norden eine kleine radikale Minderheit: Leichtathletik ist in Norddeutschland nur noch Randsportart.

Auf den allerersten Blick scheinen die Resultate von Braunschweig dies zu widerlegen. Mit dem Hamburg-Bergedorfer Abonnementsmeister Ingo Schultz, der die 400 Meter in 45,95 Sekunden für sich entschied, der ostfriesischen Hammerwerferin Andrea Bunjes vom Dorfverein SV Holtland und Oliver Dietz von der LG Braunschweig gingen immerhin drei Titel an norddeutsche Vereine. Doch dahinter tat sich auch in Braunschweig ein gähnendes Loch auf. Nicht einmal 50 AthletInnen waren aus norddeutschen Vereinen für die Titelkämpfe gemeldet, SportlerInnen wie der Hamburger Vizemeister im Weitsprung Nils Winter haben aus Frust über die Trainingsbedingungen daheim sich längst anderen Vereinen in der Republik angeschlossen.

Der Wackelkandidat

Winter trainiert inzwischen in Leverkusen, seine weitspringende Kollegin Bianca Kappler hat im saarländischen Rehlingen angeheuert. Was sich ausgezahlt hat: Kappler hatte die Olympia-Norm von 6,70 Metern bereits im Vorfeld der Meisterschaften gesprungen und darf nach Athen. Winter ist ein Wackelkandidat. Er hätte in Braunschweig eigentlich Meister werden müssen, um in Verbindung mit seinen guten Leistungen aus dem Vorjahr das Ticket nach Athen lösen zu können. Da er mit 7,76 Metern nur Zweiter wurde, muss er noch bis Donnerstag zittern. Dann gibt der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) seine Vorschläge für den Olympia-Kader bekannt. Winter und Kappler sagen übereinstimmend, das sie ihre Leistungen nicht hätten verbessern können, wenn sie in Hamburg geblieben wären: In Saarbrücken findet Kappler das, was ihr in Hamburg gefehlt hat: Eine moderne Trainingshalle, eine gute Trainingsgruppe, angemessene, ärztliche und physiotherapeutische Betreuung. Im Norden sei das nicht möglich gewesen.

Es gibt ein paar Ausnahmen. Schultz ist eine, der am Wochenende auch Wind, Kälte und strömendem Regen trotzte, schon im Vorlauf seine einsame Klasse demonstrierte und als „Super-Ingo“ gefeiert wurde. Eine andere ist Bunjes, die ihren ersten deutschen Meisterinnentitel nach Hause holte und als eine von drei deutschen Hammerwerferinnen nach Athen zu den Olympischen Spielen fährt.

Der Ostfriesen-Hammer

Seit Jahren in Ostfriesland behutsam von ihrem Coach Klaus Beyer aufgebaut, hat sich Bunjes mittlerweile auch international gefestigt. Beyer organisiert nebenbei mit dem Ostfrieslandlauf noch die größte Breitensportveranstaltung der Region, ein knorriger, mit seiner Anspruchshaltung für die lokalen Medien manchmal auch anstrengender Typ, aber einer, der weiß, was für seine AthletInnen gut ist. Der Dank von Bunjes nach dem Siegeswurf von 68,93 Metern galt denn auch zuerst Beyer: „Dass es bei mir so gut läuft, habe ich unserem Trainer zu verdanken“, sagte die 28-Jährige: „Er hat es geschafft, dass wir uns kontinuierlich gesteigert haben.“

Und dann gab es da noch Oliver Dietz, der vor den eigenen Zuschauern um sein Leben lief, um den 5.000-Meter-Titel einzuheimsen. Eine Disziplin, in der die deutsche Leichtathletik nach dem Abgang von Dieter Baumann bestenfalls zweitklassig ist. Die Zeit von Dietz war mit 13:53,06 Minuten denn auch Lichtjahre von dem entfernt, was internationaler Standard ist. Die geforderte Olympianorm des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) liegt bei 13:21,50, der in diesem Jahr vom Äthiopier Bekele aufgestellte Weltrekord bei 12:37,35. Doch das war dem 27-Jährigen Braunschweiger egal. Das Leichtathletikpublikum, ohnehin für jede halbwegs durchschnittliche Leistung überaus dankbar, erging sich in euphorischem Lokalpatriotismus und feierte den Sieger überschwänglich. „Das heute war mein Optimum gewesen“, gab Dietz auch ehrlich zu und verriet sein denkbar simples Erfolgsrezept: „Am Anfang sind sie mir fast sogar alle weggelaufen, aber ich habe mich einfach langsam wieder herangekämpft.“

Der zaudernde Senat

Ansonsten herrschte aus norddeutscher Sicht allerdings Eintracht-Braunschweig-Niveau. Ein paar Endlaufteilnahmen, einige fünfte oder sechste Plätze in den technischen Disziplinen – die Musik in der deutschen Leichtathletik, sofern sie überhaupt noch zu vernehmen ist, spielt im Osten, in den Leistungszentren Nordrhein-Westfalens und im Südwesten mit den Hochburgen Mainz, Rehlingen und Kornwestheim. Und während zum Beispiel in Hamburg sich der Bau einer Leichtathletikhalle, die der Senat vollmundig versprochen hat, weiterhin verzögert, wird der Leistungsabstand zum Rest der Republik eher größer als kleiner.

Dazu kommt, dass sich die Leichtathletik ohnehin auf dem absteigenden Aste wähnt. In Olympiajahren steigt immer mal wieder das öffentliche Interesse, aber auch Braunschweig erweckte ab und an eher den Eindruck eines begrenzt fröhlichen besseren Dorfsportfestes als das einer Hochleistungsveranstaltung, wenn die Dreisprungfrauen sich an international außer Konkurrenz befindlichen Entfernungen versuchen oder der Männer-Hochsprung bei einer Siegeshöhe von 2,17 Metern bereits beendet ist – bei zugegeben für die Springer ungünstigen Wetterbedingungen.

Athleten wie Schultz oder Bunjes haben auch in Athen zumindest die Chancen, ins olympische Finale zu kommen. Sie sind die großen Ausnahmen.

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