DIE HARTZ-IV-GESETZE MARKIEREN DEN ABSCHIED VOM AUFBAU OST
: Ungleichheit ist ansteckend

In Deutschland ist zur Zeit viel von Veränderungen die Rede. Dabei übersehen wird – vielleicht, weil so viele Reformen und Reförmchen den Blick verstellen – eine wirklich tiefgreifende Umwälzung, eine echte Revolution: Deutschland schreibt gerade den Osten ab. Das klingt pathetisch, stimmt aber dennoch. Nicht, dass nur die Politik der Bundesregierung für die fünf neuen Bundesländer gescheitert wäre und auch die Opposition keinen wirklich anderen Plan vorweisen kann. So ist es schon seit über zehn Jahren. Neu ist: Nicht nur das Gelingen, sondern die Idee als solche steht nun in Frage. Der Aufbau Ost als politisches Konzept wird gerade zu den Akten gelegt.

Aber hat der Kanzler nicht gestern Abend erst zu später Stunde die ostdeutschen Ministerpräsidenten zu sich gebeten, um mit ihnen zu diskutieren, wie die Auswirkungen seiner Reformgesetze speziell im Osten flankiert werden können? Schon, aber dabei ging es um kaum mehr als Betäubungsmittel für einen Patienten, an dessen Gesundung der behandelnde Arzt längst nicht mehr glaubt.

Hartz hat die Ost-Politiker vom konservativen Jörg Schönbohm (CDU, Brandenburg) bis zum PDS-Koalitionspartner Harald Ringstorff (SPD, Mecklenburg-Vorpommern) im Bundesrat in Ablehnung vereint: Ein seltenes, ein besonderes Ereignis, auf das Schröder mit seiner überstürzten Abendeinladung reagierte. Natürlich hatten die Neinsager Recht: Die gesamte Hartz-Gesetzgebung passt nicht auf den Osten. Und – das ist neu und der springende Punkt –: Sie will es auch gar nicht.

Die Hartz-Grundphilosophie, Arbeitslosigkeit durch effektivere Vermittlung auf der einen und Sanktionen auf der anderen Seite zu bekämpfen, ergibt keinen Sinn für Rostock, Dessau und Chemnitz. Hier gibt es eben keine Stellen, für die man Willige qualifizieren und in die man Unwillige pressen könnte. Das weiß auch Wirtschaftsminister Wolfgang Clement. Im Osten heißt effektive Vermittlung: Vermittlung in den Westen. Der Umzug nach Hamburg oder Stuttgart mag der Einzelnen aus Grimmen und dem Einzelnen aus der Lausitz wahrscheinlich durchaus guttun: Der Region sicher nicht. Der Wegzug der gut Ausgebildeten ruiniert die Sozialstruktur des Ostens noch stärker.

Aber will man dort überhaupt noch eine intakte Sozial- und Wirtschaftsstruktur schaffen? Nicht wirklich. Gerhard Schröders spektakulär zerstrittene Ostkommission war sich nur in einem einig: So wie bisher geht es nicht. Das stimmt ja: Neue Straßen schaffen nicht automatisch Nachfrage und Arbeitsplätze. Aber der Ersatzplan, in Zukunft solle sich die Förderung auf Wachstumskerne konzentrieren, ist nur ein Rückzug auf Raten.

Die ideenlose Kommission des Kanzlers ist wie die am Osten bewusst vorbeikonzipierte Agenda 2010 nur Ausdruck der eigentlichen Veränderung: Der Abschied vom Ziel Aufbau Ost ist natürlich nicht mit Pauken und Trompeten bekannt gegeben worden. Still, aber nachhaltig hat sich in Westdeutschland die Vorstellung durchgesetzt: Das wird nichts mehr. Eine Veränderung mit Relevanz: Bisher gehörte quasi zur Staatsideologie des wiedervereinigten Deutschlands, die früheren Bürger der DDR und ihre Kinder hätten ein Recht auf Lebensverhältnisse auf ähnlichem Niveau wie die ehemaligen BRD-Bürger und ihre Sprösslinge.

Der Abschied davon wird Folgen haben. Natürlich versiegen die breiten Förderströme nicht von heute auf morgen. Aber bei knappen Mitteln doch schneller, als man denkt. Ist es das nicht vielleicht sogar gut so? Und die Erkenntnis, der Osten kommt nicht mehr hoch, sogar eine lobenswerte Einsicht? Nein, denn das Hinnehmen strukturell ungleicher Lebensverhältnisse wird die Republik verändern – weit über den Osten hinaus.

Mit dem Ende des Aufbaus Ost steht nämlich in Zukunft automatisch jede andere Transferleistung in Frage. Warum soll man nicht ungerechte Chancenverteilung in einer Stadt dulden, wenn man sie innerhalb eines Landes akzeptiert? Warum Schulen in Problembezirken fördern? Oder Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen? Ungleichheit ist ansteckend: Mit dem Aufbau Ost wackelt langfristig jede Form der Umverteilung.

In England kann man heute schon beobachten, wie ein Land aussieht, das seine Politik ganz nach seinen starken Gebieten ausrichtet: Jenseits von London und dem boomenden Süden haben es Familien schwer, ihre Rechnungen zu bezahlen – selbst wenn beide Eltern Arbeit haben und gerade keine Wirtschaftskrise herrscht. Und auch im Westen Deutschlands gibt es Gegenden, die nicht mehr in der Lage sind, ihre Infrastruktur aus eigenen Mitteln aufrechtzuerhalten, in der Massenarbeitslosigkeit die Gesellschaft unterhöhlt und keine Besserung in Sicht ist. Sollen die auch aufgegeben werden? Mecklenburg-Vorpommern wird ein einziges Naturschutzgebiet, Sachsen wird Europas größtes Industriemuseum und das Ruhrgebiet ein gigantisches Freiluft-Altersheim. Schönes neues Deutschland. ROBIN ALEXANDER