Autonomie auf Mexikanisch

Vor den Toren des Großstadtmolochs Tijuana liegt ein gallisches Dorf: Im Schatten von Maquila-Fabriken kämpfen 2.000 Familien gegen die Stadtentwicklungspläne der Regierung

von CHRISTOPH TWICKEL

„Wie sieht’s aus, Compañeros?“, ruft die kleine, runde Frau in den Saal. „Wollt ihr da, wo jetzt die Grundschule steht, eine Maquila-Fabrik haben? Soll auf dem Hügel, wo wir unsere Universität bauen wollen, ein Kentucky Fried Chicken stehen?“ Hilda Bernal, die „Presse- und Propagandasekretärin“ von Maclovio Rojas, redet, als müsse sie sich ihr Amt erst verdienen. Mit gutem Grund – schließlich ist die Existenz ihres Siedlungsprojekts bedroht. Die Landesregierung Baja Californias will in diesem Jahr endlich aufräumen mit den renitenten Siedlern an der Landstraße zwischen Tecate und Tijuana, der Millionenmetropole an der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten.

An diesem Sonntag sind alle Plätze belegt im Gemeindezentrum „Aguascalientes“ – und man gibt sich kampfbereit. „Wir fahren nach Mexicali zum Ministerpräsidenten!“, ruft Bernal. „Und wenn wir einen Bus entführen!“ Von den Bänken zustimmendes Gebrummel. Gerade mal 25 Familien besetzten 1988 die kargen Hügel 30 Kilometer vor Tijuana, mittlerweile leben 10.511 Menschen in der selbst verwalteten Siedlung. Auch wenn viele davon eher zufällig hier gelandet sind, wissen doch die meisten die Vorteile des selbst verwalteten Siedlungsprojekts zu schätzen. Es geht um ein besseres Leben in einem urbanen Moloch, der geprägt ist von prekären Arbeitsverhältnissen in der berüchtigten Freihandelszone und von der hochgerüsteten Grenze zu den USA.

Jedes Jahr drängen achtzig- bis hunderttausend Menschen nach Tijuana, in der Hoffnung auf eine Chance, die hochgesicherte Grenze nach Kalifornien überschreiten zu können und dort ihr Glück zu machen oder wenigstens in der mexikanischen Großstadt einen Job in einem der Sweat Shops, den so genannten Maquilas zu erhalten. Darum, wo und wie dieser Zuwachs an neuen Einwohnern unterkommt, schert sich die Regierung aber wenig. Um Maclovio Rojas herum stampfen Wohnungsbaugesellschaften zwar eine zona urbanizada nach der anderen aus dem Boden, doch in das staatlich geförderte Programm für Eigenheimkredite schaffen es nur die Vorarbeiter und Angestellten. Auch wenn die kleinsten Bungalows nicht mehr als in Deutschland ein Mittelklassewagen kosten: Bei Wochenlöhnen zwischen 40 und 70 Dollar reichen für Ungelernte selbst 30 Arbeitsjahre nicht aus, um den Kredit abzutragen. „Wenn in einer vierköpfigen Familie alle Familienmitglieder arbeiten gehen, bleibt die Familie trotzdem arm“, sagt Jaime Cota von Cittac, einer Selbsthilfeorganisation für Maquila-Arbeiterinnen und -Arbeiter. „Also suchen sich die Leute ein Stück Land und bauen ein Haus aus alten US-Garagentoren.“

So auch in Maclovio Rojas. Auf den ersten Blick unterscheidet sich die Siedlung in nichts von den anderen der unzähligen Colonias im Osten Tijuanas: Hütten mit Dächern aus Plastikplanen, Autowracks, Garküchen, Minisupermercados. Und überall Kabelsalat, der sich seinen Weg über die Staubpisten bis zum nächsten Strommast sucht, weshalb Kinder bei Regen nicht barfuß laufen dürfen. Doch der entscheidende Unterschied zu den Nachbarsiedlungen ist: Es gibt Gemeinschaftseinrichtungen – einen Friedhof, drei Schulen, eine Bibliothek, das Aguascalientes, Stadtteilzentren und sogar ein Centro Social de la Mujer – ein Sozialzentrum für Frauen.

Überhaupt haben sich in Maclovio Rojas die Frauen in Position gebracht, die Hälfte der zehn Gemeindevertreter ist weiblich, darunter die oberste Vertreterin der Siedlung: „Generalsekretärin“ Hortensia Hernández, 38 Jahre, zweimal für mehrere Monate wegen „Aufwiegelung“ in Untersuchungshaft und seit sieben Monaten auf der Flucht vor einem Haftbefehl wegen Wasserdiebstahls – der jüngste Schachzug der Landesregierung, sich der ungeliebten Siedlern zu entledigen. Vor acht Jahren versuchte der Autokonzern Hyunday, Hernández mit „einem Haufen Geld“ zu bestechen. Man wollte ihre Einwilligung zu einem Deal, der aus Maclovio Rojas eine Erweiterung der benachbarten Hyunday-Maquila hätten werden lassen. Sie schlug das Angebot aus und organisierte eine Kampagne, die den Multi schließlich zum Verzicht zwang.

Es sind solche Geschichten, die die Mixtekin mit der humorvollen, bescheidenen Ausstrahlung unter den Siedlern zur Volksheldin machen. „Die Bewusstseinsbildung ist die schwerste Aufgabe. Die Leute müssen wissen, dass das hier ein Kampf ist“, sagt Hortensia Hernández im Hinterhof der Autowerkstatt, in deren Anbau sie sich versteckt hält. „Wir haben uns mit Goliath angelegt – also müssen wir intelligent und geschickt sein.“ Dazu gehört auch die Vernetzung mit Aktivisten aus den USA: Der „Border Art Workshop“ aus San Diego etwa bemalte mit Einwohnern das Aguascalientes mit revolutionären Motiven, Radio Free Berkeley hielt Radioworkshops ab, und US-Globalisierungsgegner stellten auf dem Friedhof Kreuze für an der Grenze erschossene Latinos auf. „Maclovio ist eine Art Disneyland für Aktivisten“, sagt Luis Rosales vom Borderhack-Netzwerk in Tijuana, das gegen das martialische Grenzregime der USA protestiert.

Die Intimfeindin von Maclovio Rojas heißt Cecilia Barone. Sie ist die Vertreterin Baja Californias in Tijuana und hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Siedler auf Linie zu bringen. „Die Regierung will, dass sich diese Gemeinde einordnet“, erklärt Barone in ihrem geräumigen Büro und klappert aufgeregt mit den Armreifen. „Es kann nicht sein, dass ein paar Anführer eine Gemeinde aufbauen und sich selbst als Obrigkeit einsetzen.“ Und die resolute Landesvertreterin lässt nichts unversucht: Im letzten Jahr machte das Städtische Heer für die nationale Befreiung Schlagzeilen, eine paramilitärische Truppe, die das Eingreifen der Armee provozieren sollte. Es folgten die Anklagen wegen der illegalen Entnahme von Wasser aus dem durch die Siedlung führenden Aquädukt: Am 4. Dezember 2002 drang ein Polizeikommando in das Haus von Nicolasa Ramos, der Frauenbeauftragten von Maclovio, um sie ohne Vorlage eines Haftbefehls festzunehmen, gleiches widerfuhr am 10. Mai dieses Jahres dem Delegierten Juan Regalado Alejo – auf offener Straße. Beide sitzen derzeit in Untersuchungshaft im verrufenen, mit 6.000 Inhaftierten völlig überfüllten Gefängnis La Mesa. Beide berichten, dass ihnen mit physischem Druck Geständnisse abverlangt wurden bezüglich des Aufenthalts ihrer Mitfunktionäre, die in der Zwischenzeit untergetaucht sind.

Wie die vorhergehenden Kriminalisierungsversuche ist auch dieser politisch motiviert. Aber: „Bisher haben wir sämtliche Prozesse gewonnen“, erklärt José Angel Peñaflor, seit zehn Jahren Anwalt von Maclovio Rojas. „Nicht dass wir so wichtig wären“, erklärt der Agrarsekretär Artemio Osuna in dem abgedunkelten Zimmer im Zentrum Tijuanas, das ihm seit Dezember als konspirative Wohnung dient, „aber das neoliberale Projekt, sich der Reichtümer und Ländereien zu bemächtigen, erlaubt es eben nicht, dass eine Gemeinde sich selbst organisiert. Maclovio Rojas könnte ein Krebsgeschwür werden, das sich auf die umliegenden Gebiete ausdehnt.“ Tatsächlich haben die Lokalmedien Maclovio Rojas bekannt gemacht in der Region und so suchen auch andere „colonias“ Unterstützung bei den streitbaren Siedlern. Letztes Jahr besetzte man mit den Einwohnern der durch Bulldozer zerstörten Siedlung Puertas al Futuro das Rathaus von Tijuana, und auch der international bekannt gewordene Fall der koreanischen Maquila Han Young nahm 1997 seinen Anfang im Aguascalientes von Maclovio: die streikenden Arbeiter fanden hier ihren Anwalt.

Mit der Vertreibung der Community Leader versucht die Landesregierung nun, den Spaltpilz in die Gemeinde zu pflanzen. Ende März präsentierte Staatssekretärin Cecilia Barone den Brief einer Einwohnerin, die über von Anführern begangene Ungerechtigkeiten Klage führte. Anfang April nahm das Wasserbauamt die so lange fruchtlos geforderten Versorgungsarbeiten in Angriff – die Verträge über eine Gesamtsumme von rund drei Millionen Dollar dürfen jedoch nicht mit der Gemeinde, sondern nur mit einzelnen Haushalten abgeschlossen werden. Und Barone kündigte an, Familien aus dem benachbarten Ejido Francisco Villa anzusiedeln, dem das Gebiet 1995 als „Erweiterung“ zugesprochen worden war.

„Compañeros, die Sache ist heiß, die Regierung will eine Lösung!“ Die Mienen im Aguascalientes sehen besorgt aus, doch Propagandasekretärin Hilda Bernal ist in Hochform. „Wir haben Widerspruch gegen die Erweiterung eingelegt, und so lange kann niemand Hand anlegen an Maclovio Rojas!“, ruft sie in den Saal. Zeitungsausschnitte am schwarzen Brett belegen: Die abtrünnige Einwohnerin und ihre Gefolgsleute – in Maclovio nur „die Verräter“ genannt – waren bereits Teil der bizarren Paramilitärs.

Ist dieses Grüppchen etwa stärker als wir? Der Unterschied ist: Diese Frau gibt sich Mühe! Und wir? Wir warten darauf, dass irgendwer anders es für uns macht.“ Zur Gegenmobilisierung verteilt eine Frau stapelweise Flugblätter, die den Siedlern die Rechtslage verdeutlichen sollen.

Punkt für Punkt müsse man die den Nachbarn erklären, mahnt Hilda Bernal. „Aber mit Courage und Energie! Nicht so larifari!“ Auf der Rückseite steht der alte Slogan, den von Kuba bis Chile noch jede lateinamerikanische Befreiungsbewegung in ihre Manifeste schrieb: „Vereint wird das Volk niemals besiegt werden.“ Nur dass es heute nicht mehr um ein ganzes Land geht. Sondern vorläufig nur um ein paar karge Hügel.

CHRISTOPH TWICKEL, 37 Jahre, lebt als freier Journalist, Publizist und Latin-DJ in Hamburg. Zurzeit arbeitet er an einem Dokumentarfilm über Maclovio Rojas