berliner szenen Warten auf Grün

Rotlichtmilieu

Die Stunde zwischen drei und vier Uhr morgens ist eine der wenigen, in der Lärm und Verkehr sich spürbar legen. Vereinzelte Speditionslaster rauschen auf der Wilhelmstraße über den Landwehrkanal Richtung Süden, Spätheimkehrer werden von schläfrig eilenden Frühschichtlern überholt. Dann ist es wieder still.

Am Nachmittag ist die Kreuzung am Halleschen Ufer vollkommen verwandelt. Seit Wochen sitzt eine kleine Gruppe Punks fast jeden Tag am Straßenrand im Gras. Sie freuen sich über die lange Rotphase, die die Autofahrer genauso zur Verzweiflung bringt wie die zahllosen Fliegenpickel auf ihrer Windschutzscheibe. Unter den anfeuernden Rufen vom Grünstreifen schäumen zwei aus der Gruppe genüsslich die Frontscheiben der Wartenden ein. Nervosität macht sich bei den Kunden breit, sobald deren innere Uhr nach Grün schreit und durch die Seifenblasen auf der Scheibe kaum der Blick bis zur Ampel gelingt. Dabei könnten sie alle sicher sein, dass sie nicht erst bei Grün zur Kasse gebeten werden.

Vor einigen Tagen war das Grüppchen am Straßenrand plötzlich verschwunden. Die Ampel zeigte wie immer Rot, und die Sonne grillte die toten Fliegen auf den Scheiben. Zwei junge Männer hatten eine neue Marktlücke entdeckt. Mit weißen Keulen begannen sie quer über die Wilhelmstraße zu jonglieren, ab und zu flog eine einsame Keule über das rote Licht der Ampel. Willig schenkten die Fahrer ihnen goldene Münzen um während der wenigen Grün-Sekunden freie Fahrt zu haben. Abends dauert es lange, bis der Verkehr abebbt. Aber niemand kam bisher auf die Idee, Frontscheinwerfer zu putzen oder mit Fackeln zu jonglieren. Das rote Licht leuchtet nur auf Blech. SILKE LODE