Mein Sohn, Schauspieler!

Ein Jahr nachdem das Theater sich beim Festival von Avignon selbst aufs Spiel gesetzt hat, riskiert es kaum etwas. Klassiker wie Corneille zielen dabei schärfer auf die Gegenwart als Videoinstallationen

VON ANDREAS KLAEUI

Ein Vater sucht verzweifelt seinen Sohn, ausgerissen von zu Hause. Er wendet sich an einen „Magier“, der ihm abenteuerliche Episoden aus dem Leben des Verlorenen vorführt – bis der Vater merkt, dass alles nur Theater war und eine Illusion. „Mein Sohn, Schauspieler!“, schreit der Vater verzweifelt und fällt in Ohnmacht. Da halten die Schauspieler inne, die Corneilles „L’Illusion comique“ in einer Inszenierung von Frédéric Fisbach auf dem Theaterfestival von Avignon zeigen, stellen sich als heutige Menschen vor und erzählen von ihrer beruflichen Situation.

Hat sich an dem Aufschrei der Väter etwas geändert? War er nicht gerade in der Krise der Intermittents wieder zu hören? Vor einem Jahr musste das Festival von Avignon abgesagt werden. Zum ersten Mal in seiner 58-jährigen Geschichte: Selbst nach dem heißen Mai 68 fand es statt. Im Juli 2003 bestreikten die Intermittents, die Teilzeitarbeitenden im künstlerischen Bereich, ihr größtes und wichtigstes Schaufenster. Viele hielten das für suizidal. Es war ein Akt der Verzweiflung. Ein Jahr später sehen wir betroffen: den Vorhang hoch und alle Fragen offen. Die Probleme sind ungelöst und so leicht nicht zu lösen. Denn dass die Kosten der Intermittence zu hoch sind, bestreitet eigentlich niemand. Nur hat das weniger mit dem System zu tun als mit den zahlreichen Unternehmen, die damit Missbrauch treiben – und zu denen peinlicherweise nicht nur Private gehören, sondern auch der staatliche Rundfunk.

Doch von Streik ist keine Rede mehr. „Die Bewegung der Intermittents ist reifer geworden“, heißt es in einer omnipräsenten Erklärung: „Die staatliche Kulturpolitik muss die Eigenheiten unserer Berufsausübung vor den Marktgesetzen schützen“, und die Frage gehe halt über eine rein ökonomische Betrachtungsweise hinaus. Einen Enthusiasmus wie den von Kardinal Richelieu, der im 17. Jahrhundert Corneilles Truppe quasi subventionierte, vermisst Frédéric Fisbach bei der Regierung. Was kann man dagegenhalten? Fisbach geht in seiner Inszenierung der „Illusion comique“ weiter und zieht die 370 Jahre alten Alexandriner-Verse mit subversivem Sprachwitz zu uns heran – bis er im letzten Drittel einen neuen Ton anschlägt und die „Illusion des Theaters“ in ihrer ganzen Anmut beschwört.

Er bleibt eine Ausnahme. Es gibt zwar gelegentlich kabarettistische Reminiszenzen der Intermittence – wenn etwa Gertrude Stein in einem (eher bieder geratenen) Dramolett des Autors Olivier Cadiot und des Regisseurs Ludovic Lagarde wiederholt: „Bei uns lässt man Künstler nicht verhungern!“ Ihren Niederschlag findet die Krise aber weit mehr auf einer strukturellen als auf der ästhetischen Ebene: Die Programmierung ist deutlich vorsichtiger ausgefallen als in den Jahren zuvor. Was an Avignon schon oft kritisiert wurde, zeigt sich verstärkt: Immer weniger Aufführungen sind wirklich Premieren, der Rest wurde anderswo ausprobiert oder macht ohnehin die Runde.

Ein Jahr nachdem sich das Theater selbst aufs Spiel gesetzt hat, riskiert es kaum etwas. Auch darin spiegelt sich die soziale und ökonomische Verunsicherung. Beispiellos ist, dass das Festival nicht im Papstpalast eröffnet wurde. Die große Haupt- und Staatsinszenierung in der „Cour d’honneur“, mit einem glanzvollen Namen des französischen Theaters „en tête de l’affiche“, Jeanne Moreau, Isabelle Huppert – das gehörte zu Avignon wie das Gewitter, das sich dann jeweils am Premierenabend darüber entlud.

Kein Gewitter, keine großtheatralischen Wagnisse in diesem Jahr. Dafür ein Schritt auf die Straße: Den Auftakt bildete ein Videotheaterprojekt, „Square Télévision de rue“, das ein Künstlerkollektiv der Stadt mit ihren Bewohnern vorbereitete. Das lässt sich zwar lesen als Signal für einen neuen Anfang, den Bruch mit Traditionen und einem herkömmlichen Theaterbegriff. Es ist natürlich eine Hommage an die Festivalstadt und ihre Bewohner und eine Reverenz an die Idee eines „Theaters fürs Volk“, die Jean Vilar 1947 dazu antrieb, das Festival zu gründen. Aber es ist auch zu bescheiden ausgefallen, um eine Wendemarke zu sein.

Die erste Inszenierung im Papstpalast war dann Thomas Ostermeiers „Woyzeck“ mit Berliner Power und französischen Rap-Einlagen. Ostermeier ist künstlerischer Berater des Festivals: Die neuen Direktoren Hortense Archambault und Vincent Baudriller wählen jedes Jahr einen Artiste associé, der eine Carte blanche bekommt. So kommt es zum deutschen Schwerpunkt in diesem Jahr und zur ersten echten Premiere im Papstpalast erst heute Abend mit einem „Peer Gynt“ der Truppe vom Pariser Odéon.

Das sind sichere, aber auch ein wenig harmlose Werte. Auch im Off-Teil des Festivals geht kaum wer ein Risiko ein. Was sich hier ausbreitet, ist meist nur die Fortsetzung des Stadttheaters mit weniger Mitteln – auch künstlerisch oft schmal.

Es ist vor allem die internationale Sektion, die auch neues Leben ins neue Avignon bringt. Eine Entdeckung für Avignon ist der Flame Jan Lauwers mit seiner Need-Company und dem wunderbar konkreten, musikalischen Biografiespiel „Isabellas Zimmer“. Der Argentinier Rodrigo García hat die Antiglobalisierungsorgie „Ronald, der Clown bei McDonald’s“ mitgebracht; der Sizilianer Pippo Delbono zeigte ein zwar etwas längliches neues Stück, das aber alle Vorfreude auf die Wiederbegegnung mit der alten Truppe und ihrem fellinesken Zauber erfüllte.