Arbeit an der Geschichte

Die großen Tage und das stille Ende der „arbeiterlichen Gesellschaft“: Bei den Brecht-Tagen sprachen Armin Petras und Wolfgang Engler über Heiner Müller und die Utopie

Brechts Zukunft liegt in Heiner Müller. Meint Armin Petras, Autor, Regisseur und Intendant des Berliner Maxim Gorki Theaters. Das ist natürlich eher von Müller als von Brecht aus gesprochen. Große Teile der Müller-Gemeinde sehen ihren Meister ohnehin nicht nur als den vielleicht wichtigsten deutschsprachigen Autor der Nachkriegszeit an, sondern auch als einzig legitimen Brecht-Erben. Doch Petras geht es nicht vordergründig um die Platzzuweisung im Olymp der Dichter und Denker. Eher markiert Müller für ihn eine Anschlussstelle, einen Punkt, wo er mit seinen Arbeiten andocken kann. Gerade erst hat er Inge und Heiner Müllers Stück „Die Korrektur“ 50 Jahre nach der Erstaufführung wieder ans Gorki-Theater geholt.

„MüllerBrechtTheater“ lautet das Motto der diesjährigen Brecht-Tage. Die Veranstalter luden Petras ein, und der kam zusammen mit Wolfgang Engler. Engler ist Rektor der Ernst-Busch-Schauspielschule und Autor unter anderem von „Die Ostdeutschen“. In diesem Buch wird die DDR als eine „arbeiterliche Gesellschaft“ beschrieben: als ein Land, in dem die Arbeitermilieus die kulturelle Dominanz ausübten und „Arbeit“ als Idee metaphysisch überhöht wurde.

Das Gorki-Theater geht unter Petras genau an dieses Kraftzentrum. Zum einen mit einer Fassung von Müllers „Korrektur“, zum anderen mit der Inszenierung „Rummelplatz“ nach dem Roman von Werner Bräunig. Beide Texte handeln von der „heroischen“ Zeit der DDR. Ohne die Widersprüche, Schwierigkeiten und Verblendungen auszusparen, zeigen beide Texte auch das Pathos von Neuanfang, Verausgabung, Utopie. Für Engler ist „Rummelplatz“ ein klassischer Text der arbeiterlichen Gesellschaft. Er erscheine von heute aus, wo, wer schon keine Arbeit hat, wenigstens shoppen soll, so fern wie ein Stück vor der „Orestie“. Das ergab bei den Proben zu „Rummelplatz“ anfangs enorme darstellerische Probleme. Den jungen, mehrheitlich westsozialisierten Schauspielerinnen war die Fabrikarbeit als etwas Glücksbringendes zu veranschaulichen zuerst völlig fremd. Sie versuchten, wie Petras berichtet, dem mit einer geläufigen prollhaften Sprache beizukommen. Erst nach einer sechsstündigen Videosession mit Volker Koepps Langzeitstudie „Wittstock“ seien die Darstellerinnen in ihren sprachlichen Möglichkeiten, den richtigen Ton zu finden, regelrecht explodiert.

Petras’ Blick auf die Jahre des Aufbaus ist aber kein nostalgischer. In einer Szene seiner „Rummelplatz“-Inszenierung zeigt er den Rausch, in den sich die jungen Bergleute arbeiten, als einen Tanz nach wummerndem Technosound. So wird das Tranceartige kollektiver Arbeit ganz gegenwärtig – und zugleich der historische Abstand: Die Darstellung der Arbeit selbst scheint nicht mehr geeignet, die fast schon erotische Erfahrung ihrer Aneignung und Ausübung auf die Bühne zu bringen. Als ob wir uns nur noch jenseits von Arbeit rauschhaft verausgaben könnten. Solcherart „Historisierung“ (Brecht) fügt sich ein in Petras’ Theater der „Korrekturen“. „Die Geschichte ist nicht zu Ende“, behauptet das Gorki-Theater in seiner aktuellen Spielzeit. Petras hat sich dafür ein Material ins Programm geholt, das immer auch die Verheißung auf ein anderes, besseres Leben in sich trägt. Er zitiert im Brecht-Haus den polnischen Philosophen Leszek Kołakowski: „Das Bestehen einer Utopie ist Voraussetzung dafür, dass die Utopie einmal Wirklichkeit wird.“

Dabei kann auch die Abwesenheit von Utopie auf die Bühne kommen – wie in „Korrekturen 09“ von Thomas Freyer, wo Arbeit keinen Sinn mehr stiftet: Arbeiten geht man nur noch, um nicht allein zu sein. Oder wie schon in Petras’ Inszenierung von „Heaven (zu tristan)“, wo die arbeiterliche Gesellschaft der ostdeutschen Nachwende-Provinz in ihrer Auflösung gezeigt wird. Die Geschichte der Arbeit zu erzählen ist auch immer Arbeit an der Geschichte.

STEFAN MAHLKE