Meiner Mutter Liebe

Wibke Bruhns’ faszinierende Geschichte über das Leben ihres Vaters

VON SABINE VOGEL

Wer ist Hans Georg Klamroth gewesen, dieser fremde Mann, der ihr Vater war? Mit dieser Frage macht sich Wibke Bruhns auf die Suche nach dem Menschen „jenseits der Gedenktafeln“ und Bücher. Was für ein Leben hat er geführt, bevor er als Hitler-Attentäter in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde? War er von Anfang an gegen den Nationalsozialismus? Warum blickt er auf den letzten Fotos so todtraurig?

Erschwert wurde ihr Vorhaben dadurch, dass niemand in der Familie nach Kriegsende – also seit ihrer frühen Kindheit – über dieses Thema redete. Erleichtert hingegen dadurch, dass in der Familie umso mehr geschrieben worden war: Zahllose Briefe, Dokumente und Tagebücher haben die Klamroths aufbewahrt – über Kriege und Umzüge hinweg. Ein wesentlicher Teil der Dokumente lagerte seit Jahrzehnten in den schweren Schubladen des Empire-Schreibtischs ihrer Mutter. Nie hat diese zu Lebzeiten gestattet, dass ihre Tochter die Papiere ansah. „Ich hatte ihre Privatsphäre zu respektieren.“ Nach dem Tod der Mutter zog Wibke Bruhns die Schubladen auf und fand das Material für eine beeindruckende Familien- und eine tragische Liebesgeschichte.

In Halberstadt waren die Klamroths seit etwa 1800 eine angesehene Familie. Über Generationen handelten sie mit Saatgut und Düngemitteln. Das Geschäft im Vorharzland expandierte kontinuierlich, so dass Hans Georg Klamroth 1898 in eines der ersten Häuser am Platze geboren wurde. In 14 Kapiteln beschreibt Wibke Bruhns die Biografie ihres Vaters: von der Kindheit über die Teilnahme am Ersten Weltkrieg als junger Fähnrich im Baltikum, die Lehrzeit in Hamburg, die Heirat mit der wohlhabenden Fabrikantentochter Else Podeus aus Wismar, die Übernahme des Familienunternehmens, die Geburt der Kinder – bis zu seiner Zeit als Abwehroffizier während des Zweiten Weltkrieges, zunächst in Dänemark und dann in Berlin, wo er zum Mitwisser der 20.-Juli-Attentäter wurde.

Raffiniert montiert Wibke Bruhns Briefzitate, Informationen zur politischen und wirtschaftlichen Lage und ihre eigenen Kommentare zu einer anschaulichen Schilderung. Die Dichte der Überlieferung erlaubt es an manchen Stellen, dem Gedankenaustausch der Klamroths zu lauschen, als säße man mit ihnen im Salon ihres von Muthesius erbauten Hauses – oder, was für die Gespräche zwischen Hans Georg und seinem Vater wahrscheinlicher ist, als ritte man mit ihnen im Frühnebel über die Felder. Insbesondere dem Briefwechsel des knapp zwanzigjährigen Fähnrichs aus dem Baltikum mit seinem Vater, dem erfahrenen Firmenchef, verarbeitet die Journalistin zu einer spannenden Reportage.

Formal vereinigt das Buch einen subtil komponierten Familienroman, eine wirtschafts- und sozialhistorische Abhandlung über das kleinstädtische Wirtschaftsbürgertum im 19. und frühen 20. Jahrhundert und schließlich ein Tagebuch, das Wibke Bruhns während der Erkundungsreise in die Vergangenheit der Eltern führte. Bei dieser Reise spricht sie ihr Publikum regelmäßig an und macht es zu Komplizen ihrer Deutung des sich anbahnenden Nationalsozialismus.

Etwas unklar bleibt für die unfreiwilligen Komplizen, auf welcher Quellenbasis die Angaben beruhen. Was sind „Familienbriefe“? Wie oft wurden sie geschrieben? Sind sie handschriftlich oder getippt? Wer bekam sie? Wie antwortete man? Was steht in einem „Kindertagebuch“ außer dem ersten Zahn und dem ersten Schultag? Bei den erklärenden Passagen zum Zeitgeschehen wüsste man gern, welche Sekundärliteratur die Autorin zitiert. Lediglich einmal wird auf Sebastian Haffners „Geschichte eines Deutschen“ verwiesen. Und: Nur ein einziges Zitat von Halberstädter Nachbarn gibt eine Außensicht auf Familie Klamroth wider.

Der Titel des Buches legt nahe, dass Hans Georg Klamroth das Thema ist. Der abwesende, tote Vater, der Held und Hochverräter, über den kein Familienmitglied sprach. Doch schwingt mit, dass die Autorin nicht nur ihren Vater, sondern mindestens ebenso dringend ihre Mutter sucht. Als Kleinkind war sie im Gewusel des überfüllten Halberstädter Hauses untergegangen, das zur Zuflucht für ausgebombte Verwandte geworden war. Später wuchs sie im Internat und bei Freunden auf. Und schließlich hat die älteste Schwester die Mutter „von ihrem jüngsten Kind zügig entlastet“. Wibke konnte ihre Mutter nicht kennen – und doch wird im Buch eine archaische Verbindung zwischen ihr, ihrer Mutter und auch ihrer ältesten Schwester deutlich: Viel Platz räumt Bruhns den Geburten der Kinder von Mutter und Schwester ein. Eine Frauensache, von der ihr Vater ausgeschlossen ist.

Hinzu kommt, dass die Tochter beim Kramen in den verbotenen Schubladen feststellte, dass Mutter Else nicht nur ihren Schreibtisch, sondern auch ihr Herz verschlossen hatte. Als der Vater 1943 von der Ostfront nach Berlin versetzt worden war und Mutter Else beim Auspacken seiner Umzugskisten Liebesbriefe einer anderen Frau gefunden hatte, kündigte sie die Beziehung auf. Seine bewegenden brieflichen Entschuldigungen akzeptierte sie nicht. Else konnte diese neuerliche Enttäuschung nicht verwinden. Ohne die Unterstützung seiner Frau rang Hans Georg Klamroth mit seinen Zweifeln am NS-Regime und seinem Wissen um das bevorstehende Attentat. Und ohne seine Unterstützung führte sie am Rande ihrer Kräfte einen 30-Personen-Haushalt im Krieg.

Erst sechzig Jahre nach dem Tod ihres Vaters erfährt die Tochter, dass ihre Mutter nicht nur den gewaltsamen Tod ihres Mannes betrauerte, sondern viel mehr noch, dass er starb, ohne dass sie die Gelegenheit gehabt oder genutzt hätte, ihm seine Affären zu vergeben. Ihr Leben lang hat sie unter diesem Versäumnis gelitten. Den Schmerz hinterließ sie unausgesprochen ihrer Tochter, und die fasst ihn nun in Worte. „Meiner Mutter Liebe“ hätte das Buch auch heißen können.

Wibke Bruhns: „Meines Vaters Land. Geschichte einer deutschen Familie“. 360 Seiten, Econ Verlag, Berlin 2004, 22 Euro