Verdichtende Anhäufungen

Die lustvolle Interdisziplinarität der Nouvelle Vague: Das Filmfestival von Pesaro und das Berliner Arsenal-Kino würdigen den Autor, Kritiker und Filmemacher André S. Labarthe

Ein schönes Beispiel dafür, dass sich die Nouvelle Vague nicht auf ein paar allseits bekannten Namen – Godard, Truffaut, Resnais etc. – reduzieren lässt, ist André S. Labarthe, Kritiker, Autor und cinéaste. Sein Schaffen wird dieser Tage gleich zweimal gewürdigt: Im Berliner Arsenal-Kino laufen noch bis in den August hinein Episoden der von ihm produzierten und zum Teil auch inszenierten TV-Reihen „Cinéastes de notre temps“ (1964–1972) und „Cinéma de notre temps“ (1989–2003), und im italienischen Pesaro präsentierte die Mostra Internazionale del Nuovo Cinema Anfang des Monats eine weiter gefasste Hommage.

Von André S. ( das S. steht für Sylvain, als Hommage an das S im Originalschriftzug von CinemaScope) Labarthe zu sprechen, bedeutet, von einem work in progress zu sprechen. Für sich genommen sind die Teile seines Schaffens nicht sonderlich aufregend; erst die Summe seiner Filme offenbart seine Bedeutung. Doch für die Filmemacher, die Labarthe einlud, Episoden für „Cinéastes de notre temps“ beziehungsweise „Cinéma de notre temps“ zu realisieren, eröffnete sich stets die Möglichkeit, eine Art metakritische Decke in das Gedankengebäude des eigenen Oeuvres einzuziehen, mit einem Gegenüber, das unweigerlich als Seelenverwandter wahrgenommen wurde. Hier besagt der einzelne Film also sehr viel.

Nicht in erster Linie ist Labarthe Filmemacher, sondern erst zunächst einmal Autor, Kritiker. Ab einem bestimmten Punkt arbeitet er mehr mit Bild und Ton als mit Wörtern, im Gegensatz zu seinen Nouvelle-Vague-Gefährten: Die sahen sich immer als Filmemacher, die ihr kinematografisches Projekt schreibend vorbereiteten und vorantrieben.

Nach einem straff jesuitischen Philosophiestudium wurde Labarthe – zur Welt kam er 1931 in Terrasson in der Dordogne – Autor: Er schrieb Anfang der Fünfzigerjahre viel über Science Fiction und Film, Letzteres bei der von Ado Kyrou geleiteten Zeitschrift L'Age du cinéma, einem surrealismusnahen Filmmagazin, dessen Leitstern das Kino von Luis Buñuel war. Für diese Zeit in Frankreich war dies eine durchaus typische Position: Einerseits suchte man so den Wiederanschluss an etwas, was in der Vorkriegszeit sinnstiftend war, andererseits boten der Surrealismus wie auch Science Fiction eine Sprache, mit der sich die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs umreißen und vielleicht auch verarbeiten ließen.

Aus einem ähnlichen Bedürfnis entwickelte sich die – äußerlich klar konträre – Realismusposition André Bazins, deren Überarbeitung und Weiterentwicklung durch den Nouvelle-Vague-Kern der Cahiers du Cinéma zur dominanten Ideologie der filmischen Moderne wurde. Labarthe bewegte sich allmählich auf die Position Bazins zu. 1956 begann er, für die Cahiers zu schreiben, wurde in der Folge Redakteur und verschob die Gewichtungen innerhalb der Redaktion, indem er Filmemacher wie Michelangelo Antonioni zu fördern begann. Das war dem harten Kern der Cahiers-Autoren und -Redakteure mit ihrer Lust an der intellektuellen Überhöhung des Hollywoodkinos fremd.

Labarthes Filmschaffen entwickelte sich aus seinem Schreiben. Janine Bazin, die Witwe von André Bazin, trat mit der Idee zu „Cinéastes de notre temps“ an ihn heran; sie produzierten die Serien gemeinsam, wobei sich nur Labarthe auch zur Regie berufen fühlte. Seinen ersten eigenen Beitrag inszenierte er 1965 mit „Roger Leenhardt ou le dernier humaniste“ („Roger Leenhardt oder der letzte Humanist“), einem Porträt jenes Kritikers und Filmemachers, den man vielleicht als Urbeispiel für die Nouvelle Vague, sicherlich als Vorbild von Labarthe bezeichnen kann.

„Cinéastes de notre temps“ war ein letzter Schritt in der Vollendung des großen Nouvelle-Vague-Projekts: Die Redakteure der Cahiers hatten für sich das epische Interview als entscheidendes Werkzeug der Filmanalyse entdeckt; in „Cinéastes de notre temps“ nun sieht man die Regisseure beim Sprechen, dazu kommen bezeichnende Augenblicke und Szenen aus ihrem Schaffen.

Seinen ersten und offiziell einzigen abendfüllenden Kinofilm realisierte Labarthe 1968 mit dem engagiert-hybriden „Les Deux Marseillaises“ im Tandem mit Jean-Louis Comolli, mit dem er von 1966 bis 1969 in der Redaktion der Cahiers saß. Von diesem Zeitpunkt an verbreitert sich sein Filmschaffen: Er beginnt nun, Porträts bildender Künstler zu realisieren, dann auch von Literaten, von Tänzern etc. – immer mit derselben Haltung, die „Cinéastes de notre temps“ charakterisierte.

Labarthes Oeuvre wuchert, ein Wildwuchs an Beziehungen breitet sich aus. Über Dekaden hinweg entsteht so ein Gewebe aus Reflexionen über die Moderne. Deshalb muss am Ende jeder Versuch, Labarthe auf etwas zu reduzieren, zum Scheitern verurteilt sein, verkennt er doch das Wesen seines Schaffens: die verdichtende Anhäufung und die dralle, lustvolle Interdisziplinarität. Labarthe schreibt über etwas, wie er darüber filmt; die eine Disziplin spiegelt und befruchtet die andere. Darin ist Labarthe von allen Vertretern der Nouvelle Vague Jean-Luc Godard am nächsten. OLAF MÖLLER