Immer wieder Testikellieder

Ein Porträt des Schriftstellers Aris Fioretos, der in Berlin lebt, in Schweden geboren wurde, aber Kind einer österreichisch-griechischen Verbindung ist

„In der Literatur geht es nicht ums Wissen, sondern um Erkenntnis“

von AXEL SCHOCK

Sein Deutsch ist perfekt. Wohl gewählt, durchsetzt mit Wendungen und Bildern, die weit weg von salopper Alltagssprache sind. Ganz entfernt vermeint man eine leichte österreichische Färbung herauszuhören. Oder vielleicht eine schwedische? Vielleicht ist dies aber nur Einbildung, weil man weiß, dass Fioretos Sohn einer Österreicherin ist. Und dass der griechische Vater Anfang der Fünfzigerjahre vor der Junta aus seiner Heimat nach Schweden fliehen musste. Dort ist der Schriftsteller Aris Fioretos geboren und aufgewachsen – und dort musste er von früher Kindheit an die Erfahrung machen, was es heißt, anders als die Mehrheit zu sein. Dort hat er auch gelernt, dass man mit nationaler, ethnischer und sozialer Identität sein Spiel treiben kann.

„Als Kind in Schweden war mir bewusst, dass ich als Schwarzhaariger unter lauter Blonden, mit einem griechischen Namen unter lauter Svenssons nie zur großen schwedischen Familie dazugehören würde. Mir blieb nur die Möglichkeit mich zu verkleiden, im übertragenen Sinne, wissend, dass es ich es nie schaffen würde.“

Das Moment des Verkleidens und Verhüllens zieht sich wie ein Leitmotiv durch sein literarisches Werk und war bei der Stoffentwicklung für Fioretos neues Buch ein ausschlaggebendes Moment. „Die Wahrheit über Sascha Knisch“, sein zweiter ins Deutsche übersetzter Roman, führt in das mondän-verruchte und politisch unruhige Berlin der Zwanzigerjahre. Nicht von ungefähr hat er ein Zitat des Berliner Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld vorangestellt: „In Geschlechtsfragen bleibt niemand bei der Wahrheit“. Auch wenn er in seinem Buch von einem Medizinalrat Froehlich schreibt, ist doch unverkennbar der große Aufklärer in Sexualfragen gemeint. In dessen „Institut für Sexualwissenschaft“ verknüpfen sich die Bahnen der verschiedenen Romanfiguren, in erster Linie des jungen Filmvorführers Sascha Knisch, der durch eine sexuelle Zeremoniemeisterin die Erfüllung seiner erotischen Leidenschaft genießen kann: sich in Frauenkleider zu hüllen.

Auch in seiner persönlichen Biografie zeigt sich Fioretos als Grenzgänger. Nach Jahren als Hochschullehrer in den USA hat er seit nunmehr drei Jahren in Berlin eine Wahlheimat gefunden. „Ich habe mir nie die Mühe gemacht, zu ergründen, was meine Heimat ist. Ich bin einfach eine genetische Korruption, sprich: Europäer“, sagt der 43-Jährige. Nach Berlin hatte ihn einst ein Stipendium geführt. Der akademischen Welt, dem literaturwissenschaftlichen Denken und wissenschaftlichen Arbeiten kehrte er den Rücken, um sich ganz dem eigenen literarischen Schaffen widmen zu können. Literatur und Wissenschaft – in seinen Romanen und in seinem Denken lassen sich diese beiden Bereiche nicht voneinander trennen. Er spielt diese beiden Identitäten nicht gegeneinander aus, sondern versucht eine für ihn fruchtbare Symbiose.

Wenn Fioretos über sein Schreiben und seine Bücher erzählt, fällt er manchmal ins Wissenschaftliche zurück. Ordnet, kategorisiert die Stoffe, abstrahiert die Themen und verweist auf die Verbindungslinien und diversen Diskurse, die sich hinter der eigentlichen erzählten Geschichte verbergen. Er philosophiert mal eben schnell über die Wesensunterschiede des Englischen, Schwedischen und Deutschern („Die deutsche Sprache hat diesen metaphysischer Ballast. Sag zwei Worte, und automatisch schwingt Hegel mit“) oder über den Biologismus im frühen 20. Jahrhundert. Dennoch geschieht die alles mit bemerkenswerter Leichtigkeit. Fioretos ist analytisch, ohne die Faktenberge selbstverliebt zur Schau zu stellen – ebenso im Gespräch wie in seinen Büchern. Geschickt nutzt er beispielsweise in „Die Wahrheit über Sascha Knisch“ die Strukturen von Krimi und historischem Roman, um über die Verhüllung von Erotik, die Macht der Testikel und der Konstruktion von Geschlecht und Subjekt nachzugehen. „In der Literatur geht es nicht ums Wissen, sondern um Erkenntnis.“, sagt Fioretos. Nur zu verständlich, dass er sich Mitte der Neunzigerjahre entschlossen hat, der Wissenschaft mit ihren zu genauen Regeln den Rücken zu kehren, um in der Literatur die Freiheit zu genießen, Fakten und Fiktion ohne Einschränkung durchmischen zu können.

So kommt es auch nicht von ungefähr, dass Aris Fioretos berichtet, an Hirschfeld habe ihn besonders fasziniert, was ihm nachfolgenden Wissenschaftlergenerationen zum Vorwurf machte: Dass für ihn die Grenzen der Forschung durchlässig waren. Hirschfelds Institut war ein kurioses Sexmuseum. Beratungsstelle, Labor und gleichzeitig Treffpunk von Homosexuellen, Hermaphroditen, Abtreibungswilligen und Künstlern.

Die mageren Zeiten, als Aris Fioretos als freier Schriftsteller in heruntergekommenen Hinterhauswohnungen leben musste, sind mittlerweile vorbei. Seine Bücher liegen mittlerweile in mehreren Ländern vor. Das Leben als Literat aber ist für ihn neuerdings eng an Berlin geknüpft. „In Stockholm hätten wir uns nie ein Wohnung leisten können, auch nicht in München oder Hamburg“, bemerkt Fioretos. „Für die Boheme ist es in Berlin einfacher zu überleben als anderswo“, sagt er und lässt damit durchblicken, dass er, der auch darin mit Identitäten spielt, in jeder anderen Stadt leben könnte, in der dies ebenso möglich wäre.

Aris Fioretos: „Die Wahrheit über Sascha Knisch“. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. DuMont 2003, 350 Seiten, 22,90 €