„Ein Orgasmus hält nicht ewig“

INTERVIEW RALF LEONHARD

taz: Als du 1985 Gesundheitsministerin wurdest, weitete sich der Krieg gerade auf das ganze Land aus. Wann hast du gemerkt, dass die Revolution verloren ist?

Dora María Téllez: Ich glaube nicht, dass die Revolution verloren ging. Sie war erfolgreich. Je mehr Zeit vergeht, desto überzeugter bin ich davon. Du musst dich nur umsehen in Nicaragua und wirst es sehen. In den Köpfen der Nicaraguaner wurde die Idee verankert, dass sie Rechte haben: Menschenrechte, politische Rechte, soziale Rechte. Das hat das Land umgewandelt. Wenn eine Gruppe verarmter Landarbeiter aus Matagalpa nach Managua marschiert und die Regierung zwingt, mit ihr zu verhandeln, dann ist das eine Folge der Revolution. Die Regierung muss ihnen Land geben oder die Chance zu arbeiten. Da sehe ich die Revolution. Was zählt, sind die langfristigen Effekte. Die stecken im Bewusstsein der Leute.

Danach arbeiteten die Menschen für eine gerechtere Gesellschaft und gaben sich mit wenig Geld zufrieden. Heute läuft ohne Geld gar nichts mehr.

Alles zu seiner Zeit. Damals taten die Leute, was zu tun war, und heute tun sie es auch. Ich habe nie damit gerechnet, dass die Energie, die eine Revolution entfesselt, in relativ normale Zeiten hinübergerettet werden kann. Eine revolutionäre Phase schafft eine enorme soziale Energie, die es möglich macht, in relativ kurzer Zeit den Rückstand von vielen Jahren aufzuholen. Aber das kannst du nicht ewig weiterführen, genauso wenig wie du einen ewigen Orgasmus haben kannst. Unmöglich! Du brauchst eine Periode, in der die Menschen ihre Erfahrungen verarbeiten und institutionalisieren, ihr Leben stabilisieren. Du musst die Veränderungen stabilisieren, damit weiter verändert werden kann.

Wo siehst du konkret die Effekte der Revolution?

Die Genossenschaftsbewegung hat sich enorm entwickelt. All diese Kooperativen und Frauenkollektive, die nicht nur das nackte Überleben garantieren, sondern gleichzeitig gegen die Gewalt in der Familie auftreten, Kindergärten organisieren und das Leben in der Gemeinschaft verbessern. Dabei hat die Wirtschaftskrise natürlich enorme Auswirkungen. Die Leute verlassen ihr Land: Eine halbe Million lebt allein in Costa Rica, insgesamt rund eine Million im Ausland. Das sind Helden, die jeden Monat Geld an ihre Familien überweisen. Ich hege die größte Bewunderung für diese Menschen, die mit ihrer Solidarität ihre Angehörigen und die Gemeinschaft über Wasser halten.

Aber euer Plan war doch nicht, die Revolution zu konsolidieren, um die Macht an Violeta Chamorro zu übergeben?

Im Jahre 1984 hatten wir eine große Diskussion um die Wahlen. Da war uns schon klar, dass man Wahlen gewinnen oder verlieren kann. Es gibt sogar ein schriftliches Dokument darüber. Natürlich hatten wir nicht geglaubt, dass wir die Wahlen 1990 verlieren würden. Aber wir haben verloren und taten, was zu tun war. Das waren die Spielregeln, und wir haben sie eingehalten.

Was 1990 als Revolution verkauft wurde, war doch nicht mehr als eine leere Hülle?

Das glaube ich nicht. Die strengen Wirtschaftsreformen von 1988 waren notwendig. Andernfalls wären wir in ein Debakel geschlittert und die Lebensbedingungen der Menschen hätten sich noch mehr verschlechtert. Es war wirtschaftlich nicht mehr zu halten. Die Sowjetunion machte bei uns ihren Laden dicht, die anderen sozialistischen Staaten folgten. Plötzlich mussten wir die Wirklichkeit allein bewältigen: den Wirtschaftsboykott der USA, die Außenverschuldung, die Hyperinflation, die ja immer von den Ärmsten bezahlt wird. Es gab kein Zurück. Die Reformen von 1988 waren hart, aber unvermeidlich.

Führten nicht auch interne Faktoren dazu, dass von der Revolution, wie sie begonnen hatte, nicht viel übrig blieb.

Die schönste Wirklichkeit reicht nie an die Träume heran. Seit wir die Auswirkungen des Krieges spürten, mussten wir sehr realistisch sein. Du kannst nicht mehr tun, was du gerne tun willst. Bis 1985 wurde die Gesundheitsversorgung stark ausgeweitet. Ab dann reichten die Mittel gerade noch für die Besitzstandswahrung. Uns hatte ein revolutionärer Aufbau im Frieden vorgeschwebt. Aber der Friede war uns kaum für ein Viertel unserer Zeit beschieden.

Die autoritären Führungsstrukturen, die es gab, wurden auch durch den Krieg gerechtfertigt, haben aber wohl auch andere Ursachen?

Der Autoritarismus war ein Problem der sandinistischen Führung. Aber in der ganzen Geschichte Nicaraguas wurde der Autoritarismus als Stil der Regierungsausübung nie so heftig infrage gestellt wie damals. Sieh dir die Karikaturen an, die damals in der Parteizeitung Barricada erschienen. Und es gab Diskussionen auf breiter Ebene. Die späteren Regierungen waren um nichts besser. Das wird als völlig normal betrachtet. Der sandinistische Staat war nicht mehr und nicht weniger autoritär als der der vergangenen anderthalb Jahrhunderte. Aber es wurde mit den Massenorganisationen eine enorme soziale Gegenkraft geschaffen …

die von oben gegängelt wurde.

Wir sind Nicaraguaner und mit diesem Schema groß geworden. Wir sahen darin kein Problem. Im Gegenteil. Das Problem war nur, dass wir den Moment verpassten, diese Organisationen in die Volljährigkeit zu entlassen und darauf entsprechend vorzubereiten. Nur mit der Kommunalbewegung hat das halbwegs geklappt. Über das Verhältnis FSLN–Massenorganisationen gab es 1989 eine große Debatte. Wir beschlossen dann, dieses Thema auf dem ersten Parteikongress nach den Wahlen zu behandeln. Aber wie wir wissen, gab es dann auf dem Kongress nach der Wahlschlappe vordringlichere Themen.

Wann wurde denn der Anspruch der Avantgarde aufgegeben?

1990 wurde darüber diskutiert. Das hatte natürlich seine Berechtigung. Später dann nicht mehr. Ohne Avantgarde hätten wir den Zusammenhalt nicht gehabt, um die Diktatur zu stürzen.

1990 gab es aber längst keine solche Berechtigung mehr.

Im Grunde haben wir auf den Anspruch der Avantgarde verzichtet, als wir beschlossen, Wahlen abzuhalten. Damit war es mit der Avantgarde technisch vorbei. Das heißt nicht, dass das Konzept in deinem Kopf nicht philosophisch weiter verankert ist. Das ist so wie bei einer Scheidung. Man braucht Jahre, um sich vom Partner wirklich loszulösen. Die Avantgarde war seit 1984 Geschichte. Aber die Bedingungen des Krieges zwangen uns zu einer Konzentration der Macht, ähnlich wie bei einer Avantgarde. Dann verloren wir plötzlich die Wahlen und merkten, dass die Avantgarde nicht mehr existierte.

Hat der bewaffnete Kampf heute noch seine Berechtigung?

Das kommt darauf an. Ich denke, der irakische Widerstand gegen die Besetzung durch die USA und Großbritannien ist legitim. Wenn wir in Nicaragua wieder eine Diktatur hätten, würde ich keinen Moment zögern, wieder dagegen zu kämpfen – wenn nötig mit der Waffe.

Wer darf sich heute noch Sandinist nennen?

Jeder, der will. Der Sandinismus ist eine lebendige politische Realität.

Ist eure Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS) der Hort des wahren Sandinismus?

Ich gehöre nicht zu jenen, die einen Alleinvertretungsanspruch für politische Reinheit und Authentizität stellen. Mit welchem Recht kann ich behaupten, die anderen sind nicht authentisch? Ich sehe den Sandinismus als etwas, was über den Parteien steht. Er ist eine Option der Linken, die sich für das 21. Jahrhundert neu definieren muss.

Ist eine Wiedervereinigung der Parteien wünschenswert?

Die Einheit des Sandinismus muss unser Ziel sein. Bis dahin hat jede Partei zu tun, was sie für richtig hält.