„Es ist erst drei, du Flasche!“

26 Jahre nach seiner Ermordung durch ein Kommando der RAF holt eine Fernsehdokumentation Hanns Martin Schleyer aus der Opferecke

von PETRA GROLL

Mitten in die Sommerlochdebatte um eine angedachte Ausstellung zum „Mythos RAF“ setzt Lutz Hachmeisters Dokumentation „Schleyer. Eine deutsche Geschichte“ einen Punkt. Der Film wurde im Auftrag von NDR und WDR produziert und von der nordrhein-westfälischen Filmförderung kofinanziert. Kulturstaatsministerin Christina Weiss sollte den Film als entschiedene Ermunterung verstehen, die Berliner Ausstellung nach Kräften zu fördern. Die ARD zeigt die Dokumentation am kommenden Mittwoch, den 20. August, um 23 Uhr. So bleibt die Quote flach. Selbst schuld, ist man versucht zu raunzen, bedauert andererseits aber diese Sendepolitik, denn eigentlich möchte man den Film für den Schulunterricht empfehlen. Also: Rekorder ein!

Fakten, Fakten, Fakten, neunzig Minuten lang Fakten, die immer wieder eine Gänsehaut verursachen. Ein Jahr lang haben Hachmeister und sein Team Archive gesichtet und Zeitzeugen interviewt, Material ohne Ende geschnitten. Die Erinnerungen der Witwe Waltrude Schleyer, der drei Söhne, politischer Freunde und Feinde aus allen Epochen seiner Vita, Schriftstücke, Archivbilder und -filme erzeugen endlich ein dichtes Gewebe von Informationen, ein kraftvolles Bild vom „Boss der Bosse“ und ein packendes Stück Geschichte.

Hanns Martin Schleyer, am 1. Mai 1915 geboren, engagiert sich bereits als Schüler in der Hitlerjugend, gehört als Studentenführer in Heidelberg zur NS-Avantgarde, ist Mitglied der Schlagenden Verbindung „Svevia“. Schleyers ältester Sohn Hanns-Eberhard: „Das Schlagen schweißt zusammen, wie – salopp gesagt – Bergsteigen.“ 1935, kurz nach seiner Mensur, einem Initiationsfechtkampf, bei dem er sich die markanten Schmisse holt, tritt Hanns Martin Schleyer unter Protest aus der „Svevia“ aus: Die Verbindung will sich nicht von einigen jüdischen Alten Herren trennen. Hachmeister zeigt einen Brief, in dem Schleyer seine wüste Ideologie begründet.

1940 zur Wehrmacht eingezogen, stürzt Schleyer in den französischen Kreidefelsen bei Calais – und fällt die Karriereleiter nach oben: Nur ein Jahr später leitet er das Studentenwerk in Prag, Hauptstadt des „Protektorats Böhmen und Mähren“, mit 130 Angestellten. Schleyers Arbeit ist sein Leben. Von früh bis spät managt er alles: Stipendien, Wohnheimplätze, die Mensa. Seine Witwe erinnert sich: „Als ich ihn einmal fragte, ob wir heute vielleicht etwas früher nach Haus gehen können, antwortete er: Es ist erst drei, du Flasche.“

Bei sonstigen Details versagt der Dame Gedächtnis, leider. Wie es zuging, dass Familie Schleyer – inzwischen ist Hanns-Eberhard geboren – eine nette Villa im Prager Diplomatenviertel Bubentsch beziehen kann? „Wir haben dann plötzlich drin gewohnt.“ Die Besitzerin, Marie Waignerová, wurde enteignet, deportiert und im Konzentrationslager Auschwitz ermordet, belegen die Filmrecherchen.

1942 wechselt Schleyer zum „Centralverband der Industrie“ im Protektorat. Längst hat die NS-Spitze die Ausmerzung der Tschechen beschlossen, doch zunächst sollen sie noch Panzer bauen für die Feldzüge der Deutschen. Für die „Endlösung“ ist der Chef des Reichssicherheitshauptamts, Reinhard Heydrich, zuständig, für die Zwangsarbeit der „Centralverband“. Dass Schleyer persönlich Hand angelegt hat, kann Hachmeister nicht belegen. Aber die Dokumentation lässt keinen Zweifel offen, dass Schleyer, als rechte Hand des Verbandschefs Bernhard Adolf, über alle Maßnahmen im Bilde war.

In der Familie, so Sohn Arnd im Rückblick, wird über diese Zeit nicht viel gesprochen. Auch Kurt Biedenkopf (CDU) hat Menschen „in diesen Wirrungen und Verwirrungen nie mit Fragen bedrängt“. Erst nach fast sechzig Jahren wird der Druck auf deutsche Firmen so groß, dass sie bereit sind, NS-Zwangsarbeiter zu entschädigen. 600.000 waren es allein in „Böhmen und Mähren“, auch daran erinnert der Film.

Mit einem Taschenspielertrick entkommt Hanns Martin Schleyer 1945 aus Prag, wird kurz vorm Elternhaus in Konstanz von französischen Truppen verhaftet und für drei Jahre interniert. Schließlich wird der ehemalige SS-Untersturmbannführer entnazifiziert: als „minderbelastet“ – auf seinen Protest hin gar als „Mitläufer“.

Mitlaufen? Ein schwaches Wort für Schleyers Gangart. Schleyer macht Dampf: zuerst bei der Industrie- und Handelskammer Baden-Baden, dann bei Daimler-Benz in Stuttgart, wo er ab 1951 die Personalabteilung aufbaut. Hachmeister: „Jetzt kommt der Höhepunkt seiner Karriere. Schleyer kann alles einsetzen, was er in Prag gelernt hat.“ Nach der Befreiung gestaltet der Nazi a.D. das Wirtschaftswunderland.

Mit Belegschaft und Gewerkschaft kann er gut. Der „Menschenführer“ (Biedenkopf) gründet die Betriebssportgruppe „Stern“, besteht darauf, dass Vorstandsleute mit Arbeitern zum Kegeln gehen. Mittags Cognac, abends Bier. Hachmeisters Film zeigt Willy Bleicher, sturztrunken vor den Fernsehkameras eine Tarifrunde kommentierend. Der charismatische IG-Metall-Chef, Kommunist und KZ-Häftling im Clinch mit dem Personalchef – das war schon einen Asbach wert. Dazu der spätere Daimler-Chef Chef Edzard Reuter: Schleyers Haltung war immer klar, Mitbestimmung gefährdet Unternehmen, aber Gewerkschaft muss sein.

Franz Steinkühler, ehemaliger IG-Metall-Funktionär, erinnert sich noch gut daran, wie aus dem Arbeitgeberlager der Whiskey verbannt wurde: „Da mussten wir auch nüchtern bleiben.“ Pragmatisch wie gewohnt, der Gewerkschafter. Dass Schleyer bei Daimler die „halbe Organisation Todt“ versammelt hatte, nimmt Steinkühler gelassen hin. Er betont die „hohe Arbeitsplatzsicherheit. Das war wie eine Lebensversicherung. Dafür haben sich die Leute aber auch in den Betrieb investiert.“ Schleyer hielt die Arbeiter (und damit natürlich auch die Gewerkschaft) bei Laune: Nicht 8,5 Prozent mehr Lohn gestand er seinen Leuten zu, sondern 11 und Spezialisten sogar 16 Prozent. Hart und herzlich.

1973 macht Schleyer als Lobbyist wieder Politik: Er wird zugleich Präsident beim Bund der Arbeitgeber und beim Bund der Industrie. Die Doppelspitze in Personalunion wirkt auf die RAF „wie ein Magnet“. So Stefan Wisniewski im Interview, der als Schleyer-Entführer zu zweimal „lebenslänglich“ verurteilt wurde und mittlerweile wieder frei ist. Die so genannte erste Generation der RAF macht damals aus dem Knast heraus mächtig Druck. 1976 scheitert eine erste Freipressung der Gefangenen, die Verfolgungsmethoden werden härter, auf beiden Seiten gibt es immer mehr Tote. 1977 ist die RAF bereit für eine neue Offensive. Generalbundesanwalt Siegfried Buback wird erschossen, der Industrielle Jürgen Ponto stirbt im Handgemenge einer gescheiterten Entführung. Schleyer fühlt sich im Visier, das BKA signalisiert Alarmstufe Rot. Doch sein Fahrzeug ist nicht gepanzert, sein Personenschutz nicht trainiert. Am 5. September schlägt das RAF-Kommando zu.

43 Tage lang halten die Terroristen Schleyer gefangen, bevor sie ihn erschießen. Die sozialliberale Koalition unter Helmut Schmidt will sich nicht mehr erpressen lassen. Auch nicht, als ein palästinensisches Unterstützerkommando einen Flieger mit deutschen Mallorca-Urlaubern hijackt. Im Krisenstab versammelt Schmidt faktisch eine große Koalition.

Hachmeister lässt in seiner Dokumentation den Krisenstab außen vor. Warum? Der Krisenstab, so Hachmeister zur taz, sei in Heinrich Breloers zweiteiligem Dokudrama „Todesspiel“ (1997) bereits gut dargestellt worden. Außerdem hätten weitere Interviewpartner womöglich zur Überfrachtung geführt. Dem mag man zustimmen, denn Hachmeisters Film fordert ohnehin viel Konzentration und ist als Einteiler schon erheblich verdichtet. Für den Geschichtsunterricht hilft dann freilich nur das Doppelpack.

Wo aber war sie eigentlich, die „kritische“ Öffentlichkeit, als absehbar war, dass weder Krisenstab noch RAF nachgeben würden? Gewerkschaften und Betriebsräte forderten öffentlich Schleyers Freilassung. Einen direkten Draht zur RAF hatten sie aber längst nicht mehr. Und die radikale Linke? Sah gebannt zu. War gefangen in der „bleiernen Zeit“, wie Margarethe von Trotta 1981 und Lutz Hachmeister heute analysieren.

Kritik von links hatte es in all den Jahren gegeben, durchaus auch öffentlich, aber eben strategisch. Die Politik der RAF war falsch, basta. Eine Demo mit dem Motto „Lasst ihn laufen“? Vollkommen unvorstellbar. Keine Anzeigenkampagne, kein überdimensionales Transparent an einem Industrieschlot. Die Friedensbewegung, Greenpeace und die taz mussten erst erfunden werden. Mitgefühl, Erbarmen mit Schleyer gab es nicht.

Es wäre möglich, dieses umfassende Schweigen zu dokumentieren und hier nachzubohren. Hachmeister lässt den ehemaligen RAF-Aktivisten und heutigen Schauspieler Christof Wackernagel gesellschaftliche Verantwortung für die Zeit einfordern. Ein Gedanke, der ausbaufähig ist. Vielleicht in dem Buch, das Lutz Hachmeister plant. Durchaus auch im Rahmen einer Ausstellung zum „Mythos RAF“. Warum sollten dort nicht die unterschiedlichen Sichtweisen zu einer gemeinsamen Geschichte versammelt werden können, in der wenigstens die Faktenlage aller Fraktionen geklärt wird? Dazu bräuchte es viel Aufwand, viel Geld und würde mit Sicherheit die Gefühle aller Beteiligten berühren, wahrscheinlich verletzen. Sie könnte aber eine neue Qualität der Debatte bedeuten. Und man könnte sie sich als Ziel einer Klassenfahrt vorstellen. Sogar mit hunderten von Kids im Prada-Meinhof-T-Shirt.

PETRA GROLL, Jahrgang 57, gehört zur taz-Gründergeneration. 1977 war sie in der Antiatombewegung engagiert und oft mit hoch alarmierten Sicherheitskräften konfrontiert. Sie lebt mit ihrem Sohn in Berlin und arbeitet als Journalistin für die Gewerkschaft ver.di