Herr Lee kämpft mit dem Dach

Es gibt hier viele Pagodendächer, aber wenig öffentlichen Raum: Ein Vortrag des Architekturkritikers Eduard Kögel und eine Ausstellung mit Fotos aus Schanghai im Cultural Forum for Photography – „Auf der Suche nach der chinesischen Architektur“

VON SUSANNE MESSMER

Peking ist eine hässliche Stadt. Neben den wenigen verbliebenen Stadtvierteln mit traditionellen chinesischen Hofhäusern gibt es vor allem eine einzige Art Architektur: dreißiggeschossige Solitäre, die kontextfrei auf der Wiese stehen, ganze Gruppen unproportionierter Apartmenthäuser. Schön findet in Peking diese Häuser niemand. Schön finden sie wahrscheinlich nicht einmal ihre Erbauer, denn sonst wäre kaum zu erklären, dass sie vielen von ihnen – wie um sie ein wenig aufzupeppen – auch noch neckische Deckelchen aufgesetzt haben, funktionslose Pagodendächer, die wirken wie ein viel zu kleiner Hut auf einer viel zu dicken Dame.

So war es also dem gemeinen Chinareisenden höchst willkommen, endlich eine Erklärung für diese seltsamen kleinen Dächer zu bekommen: Das chinesische Dach, so führte der Architekturkritiker Eduard Kögel bei C/O Berlin, dem Cultural Forum for Photograpy, in seinem Vortrag über die „Suche nach der chinesischen Architektur“ aus – das chinesische Dach war im Prinzip der erste und letzte klägliche Versuch der chinesischen Architektur, an landeseigene Bautraditionen anzuknüpfen. In seinem unterhaltsamen Galopp durch hundert Jahre chinesische Architekturgeschichte erzählte Eduard Kögel, dass es in China den Beruf des Architekten erst seit den späten Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gibt. Als die erste Generation chinesischer Architekten in den Dreißigerjahren nach ihrem Auslandsstudium in Amerika und Europa nach China zurückkehrten, waren sie zunächst mit dem Wunsch der nationalistischen Regierung unter Tschiang-Kai-tschek konfrontiert, eine neue nationale Architektur zu entwickeln.

So entstand eine unsäglich klassizistische, monumentale Architektur – der aber, um sie wenigstens ein wenig chinesischer erscheinen zu lassen, einfach ein traditionell anmutendes chinesisches Dach aufgesetzt wurde. Es ist genau diese brachiale Architektur, die bis heute in China fortwirkt.

Eduard Kögel legt sehr sarkastisch dar, wie sich die chinesische Auseinandersetzung mit Tradition und Moderne über Jahrzehnte hinweg auf das Prinzip Deckel beschränkte – zum Beispiel schildert er den Fall des Architekten Chen Kuen Lee, der sein ganzes Leben lang mit dem Dach kämpfte, die Dächer seiner Häuser knickte, faltete und in alle Richtungen drehte – anstatt es einfach wegzulassen. Erst als die Architektur immer schneller entstehen musste – Eduard Kögel erwähnt ein riesiges Hotel, das vor vierzig Jahren nur deshalb kein Dach bekam, weil es binnen fünfzig Tagen fertig sein musste –, geriet die Dachfrage langsam in den Hintergrund.

Trotzdem hat Eduard Kögel nur wenige zeitgenössische Beispiele von Projekten kleiner chinesischer Architekturbüros gefunden, in denen es weder um Protz noch um Schnelligkeit geht – sondern neuerdings auch um regionale Stile, traditionelle Materialien, das Zusammenspiel von Form und Funktion. Er erwähnt junge Architekten wie Liu Jiakun, die sich erstmals von der üblichen Rolle des chinesischen Architekten als großem Entwerfer emanzipiert haben, einem Genie, der sich mit Kleinigkeiten wie der Bauausführung nicht mehr zu befassen hat. Liu Jiakun arbeitet grundsätzlich mit lokalen Handwerkern vor Ort zusammen und plant nur, was diese auch ausführen können. Da Architekten mit Vorgehensweisen wie diesen eher kleinere Projekte in Schach halten können, ist es unsicher, ob sie sich in China werden durchsetzten können.

Worauf Eduard Kögel in seinem Vortrag leider nicht mehr zu sprechen kommt, ist eines der interessantesten städteplanerischen Herausforderungen in China: der Mangel an öffentlichem Raum. Deshalb ist es umso schöner, dass C/O Berlin im Rahmen seines Schwerpunkts „China Change“ nicht nur Vorträge organisiert und Bilder der Kulturrevolution des Fotojournalisten Li Zhensheng nach Berlin geholt hat (siehe taz vom 26.6.), sondern auch Bilder des zeitgenössischen chinesischen Fotografen Lu Yuanming. Diese Alltagsfotografien zeigen die Versäumnisse der chinesischen Stadtplaner – und auch, wie Chinas Bevölkerung mit diesen umgeht.

Öffentlicher Raum in China hat keine Tradition. Gewöhnliche Stadtbewohner entwickelten zu Kaiserzeiten wegen abendlicher Ausgangssperren erst sehr spät öffentliche Formen des Zusammenlebens. Erst in letzter Zeit, da auch in China die Freizeit zunimmt, entwickelt sich eine ganz neue Straßenkultur. Doch nach wie vor hat es dafür kaum Orte: Der größte öffentliche Platz der Welt etwa, der Tiananmenplatz in Peking, ist für Paraden angelegt – und lässt sich kaum erlaufen. Grünflächen darf man in Peking grundsätzlich nicht betreten, und viele andere öffentliche Plätze der Stadt sind von Autos verstellt, weil es nicht genug Parkplätze gibt. Insofern ist es fast ein Wunder, dass der Mangel an öffentlichem Raum in China nicht zwangsläufig zu einem Mangel an öffentlicher Lebendigkeit führt.

Lu Yuanmings Fotografien zeigen coole Jugendliche in Schanghai, die natürlich nicht auf Bänken abhängen, sondern in den überdachten Eingangsbereichen der U-Bahn. Man sieht karge Mauern, die mit Bambusbäumen und traditionellen chinesischen Rundtüren bepinselt sind – und man sieht einen Mann, wie er einen Drachen steigen lässt: allerdings nicht in einem Park oder auf einem weiten Platz, sondern auf der Brücke der Stadtautobahn. Der Grund: Dank der Schneisen, die für die Straßen in die Stadt geschlagen wurden, pfeift der Wind dort stärker.

Ausstellung mit den Bildern Lu Yuanmings und einer Videoarbeit Liang Yues: bis zum 15. 8. Täglich 11–19 Uhr, C/O Berlin, Linienstraße 144, Mitte