Chronisch unterversorgt

Obwohl es in ganz Hamburg laut Kassenärztlicher Vereinigung eigentlich genügend Arztpraxen gibt, herrscht in ärmeren Gegenden wie Billstedt, Steilshoop oder Neugraben-Fischbek Ärztemangel

VON TINA STADLMAYER

„Wir sind an der Leistungsgrenze. Deshalb muss ich täglich zehn bis zwanzig Patienten ohne Behandlung wegschicken“, sagt Hausarzt Norbert Eckhardt aus Neugraben-Fischbek. „Bei uns fehlen Ärzte verschiedener Fachrichtungen“, berichtet auch Allgemeinmediziner Matthias Kleji aus Billstedt. Im kinderreichen Steilshoop gibt es inzwischen keine Kinderarztpraxis mehr, auf der Veddel und in Rothenburgsort insgesamt nur drei.

Immer mehr Praxen ziehen aus den ärmeren Gegenden Hamburgs in lukrativere Viertel. Die Folge: In den verbleibenden Praxen sind die Wartezimmer überfüllt. In armen Gegenden, wo die Menschen häufiger krank sind als anderswo, gibt es die wenigsten Praxen und damit auch kaum Gesundheitsprävention.

Doch der Ärztemangel macht sich inzwischen auch in gemischten Wohnvierteln wie Eidelstedt bemerkbar. Und das, obwohl es in Hamburg mehr Arztpraxen gibt, als nötig wären. Der Versorgungsgrad liegt nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) „zwischen 109 Prozent bei den Hausärzten und 161 Prozent bei den fachärztlich tätigen Internisten“. Deshalb werden in der Hansestadt keine neuen Praxen mehr zugelassen.

Die Zahlen der KV beziehen sich allerdings auf ganz Hamburg und berücksichtigen nicht, dass viele der 4.100 niedergelassenen ÄrztInnen in wohlhabenderen Gegenden arbeiten. Zur Unterversorgung in den ärmeren Stadtteilen sagt der stellvertretende KV-Vorsitzende Walter Plassmann: „Wir sind darauf angewiesen, dass ein Arzt in dieses Gebiet gehen möchte.“ Die finanziellen Bedingungen seien oft nicht das Problem, sondern „die zunehmend geringere Bereitschaft von Ärzten, sich bestimmten Arbeitssituationen auszusetzen“. Doch das stimmt nur bedingt: Jüngere ÄrztInnen sind zwar weniger bereit als die Generation vor ihnen, von morgens bis abends zu arbeiten und nach Praxisschluss noch Hausbesuche zu machen. Aber auch Geld spielt eine Rolle: Eine Arztpraxis braucht einen bestimmten Anteil an PrivatpatientInnen, um rentabel zu sein. Die gibt es vor allem in den besseren Vierteln.

Geregelte Arbeitszeiten und gutes Einkommen bieten auch die 33 medizinischen Versorgungszentren (MVZ). Auch sie siedeln sich meist in wohlhabenderen Gegenden an. So verkaufte etwa ein Hausarzt aus Finkenwerder, das bereits unterversorgt war, seine Zulassung an das neue MVZ in Winterhude. Dadurch entstand eine Lücke, die nur durch eine Sonderzulassung gestopft werden konnte.

Vor allem Kinder- und Hausarztpraxen in ärmeren Gegenden sind nicht sehr rentabel. Ein Grund ist, dass der Einsatz technischer Apparate höher honoriert wird als Beratung. Ein weiterer, dass sich ihre PatientInnen keine Zusatzleistungen wünschen, die sie selbst bezahlen müssen. „Bei uns in Billstedt, wo viele ärmere Familien wohnen, gibt es zu wenige Kinderärzte“, beklagt zudem Allgemeinmediziner Kleij. Außerdem fehlten in Billstedt Neurologen und Psychotherapeuten. „Als Hausarzt versuche ich auch diesen Patienten zu helfen.“ Das führe dazu, dass sein Wartezimmer ständig überfüllt sei. Er arbeite seit vielen Jahren mindestens 60 Stunden in der Woche, erzählt Matthias Kleij. Seinem Sohn hat er davon abgeraten, Allgemeinmediziner zu werden.

In Steilshoop, einem der ärmsten und kinderreichsten Stadtteile Hamburgs, hat vor kurzem zudem die letzte Kinderarztpraxis dichtgemacht. Viele Eltern bringen ihren Nachwuchs jetzt zu dem Allgemeinmediziner Farid Rahimi. Noch vor wenigen Jahren, erzählt Rahimi, habe es in Steilshoop viele Facharztpraxen gegeben. Jetzt seien die meisten weggezogen. Er will in Steilshoop bleiben. Um über die Runden zu kommen, fährt er ab und zu nach Großbritannien, um dort als Notarzt Geld zu verdienen.

Ute Ernstberger, die ihre Praxis von Steilshoop nach Fuhlsbüttel verlegt hat, muss sich jetzt gegen den Vorwurf wehren, sie habe ihre Patienten im Stich gelassen. Nach dem Weggang ihres Praxiskollegen habe sie sich die großen Räume nicht mehr leisten können, sagt sie: „Zwei Drittel meiner Patienten aus Steilshoop kommen jetzt mit dem Bus oder dem Auto in meine vier Kilometer weiter weg gelegene neue Praxis.“ Ute Ernstberger hofft, dass sie mit ihrer neuen Praxis finanziell über die Runden kommt und ihre Kredite abbezahlen kann – immerhin hat sie jetzt etwas mehr PrivatpatientInnen als in Steilshoop. „Trotzdem könnte ich mit dem, was ich verdiene, keine Familie ernähren“, sagt sie. Sie hofft, dass ihre Praxis in Zukunft noch mehr Zulauf bekommt.

Norbert Eckhardt, Hausarzt in Neugraben-Fischbek, wünscht sich dagegen dringend Verstärkung. Sein Stadtteil im Süden Hamburgs ist zwar nicht besonders wohlhabend, aber es gibt auch keine großen sozialen Probleme. Trotzdem ist ein Arzt weggezogen, ein anderer hat seine Zulassung verkauft und wird im April aufhören, zwei weitere werden aus Altersgründen ebenfalls nicht mehr lange weitermachen. Norbert Eckhardt bezweifelt, dass sie Nachfolger finden werden. Er selbst nimmt keine neuen Patienten mehr auf. Einige Abgewiesene hätten ihm deshalb sogar schon körperliche Gewalt angedroht, erzählt der Arzt.

Wie könnte der Ärztemangel in den ärmeren Stadtteilen behoben werden? Norbert Eckhardt schlägt vor: „Die KV könnte Ärzten finanziell entgegenkommen, wenn sie sich in Fischbek niederlassen.“ Hannelore Heuchert, Kinder- und Jugendärztin in Uhlenhorst, verlangt: „Haus- und Kinderarztmedizin müsste hoher honoriert werden, weil sie mehr Zuwendung zu den Patienten erfordert.“ Gesundheitsexperte Karl Lauterbach schlägt vor: „Dort wo Überversorgung ist, wird weniger bezahlt pro Patient und wo Unterversorgung ist, da wird mehr bezahlt.“ Die KV hält dies nicht für machbar, „weil die rechtliche Grundlage und das Geld dafür fehlen“.