Flucht vor der Verstümmelung

Weltweit sind 120 Millionen Frauen beschnitten, und jährlich kommen weitere zwei Millionen dazu. Aber in Kenia entfliehen immer mehr Maasai-Mädchen dem Eingriff. Offiziell ist er zwar verboten, wird aber dennoch weiter vorgenommen

Ich kann nicht öffentlich sagen,dass ich gegen diese Tradition bin

aus Narok ILONA EVELEENS

Agnes Pareyio stellt ein braun gestrichenes Holzmodell auf den Tisch. Zwischen weiblichen Oberschenkeln und Hüften hängt die Vierundvierzigjährige ein Holzblöckchen auf einen Nagel in die Mitte. Das soll die Vagina darstellen. „So sollen wir aussehen“, erklärt sie den lauschenden Kindern. Dann ersetzt sie das Holzstück mit einem anderen, das abgefeilt ist und einen feuerroten Punkt trägt. „So sehen wir nach unserer Beschneidung aus“, sagt sie.

Um sie herum sitzen Mädchen des kenianischen Maasai-Volkes. Die Kinder des Hirtenvolkes gehen meistens ins Internat, während die Eltern mit dem Vieh auf den Savannen im Süden Kenias umherschweifen. In den Schulferien dient das Zentrum am Rande des südwestlichen Narok als Ersatzheim. Und hier, in der einzigen solchen Einrichtung in ganz Kenia, lernen die Kinder, die Tradition der Beschneidung zu hinterfragen.

Bei den Maasai ist die Sunna-Form der Beschneidung geläufig, die am wenigsten Spuren hinterlässt. Die Schamlippen werden nicht weggeschnitten, und die Vagina wird nicht zugenäht, wie es bei manchen afrikanischen Völkern üblich ist. Dennoch ist der Eingriff traumatisch. „Die eigene Beschneidung vergisst man nie“, erzählt Agnes Pareyio. „Ich wollte es überhaupt nicht, aber ich wurde gezwungen. Es gab keine Betäubung. Die Schmerzen waren kaum zu ertragen.“

Die kleine, vollschlanke Frau trägt am liebsten die traditionelle vielfarbige Maasaitracht. Sie ist stolz auf viele Traditionen ihrer Bevölkerungsgruppe, aber manche findet sie ekelhaft, wie eben die Beschneidung von Mädchen. Seit drei Jahren zieht sie mit ihrem Holzmodell durch Kenias Maasailand, um auf die Risiken der Beschneidung hinzuweisen: Oft verbluten die Mädchen, oder sie werden mit dem HI-Virus infiziert. Auch kann es später bei Entbindungen Komplikationen geben. Maasai-Mädchen werden in dem Jahr beschnitten, in dem sie ihre erste Periode bekommen. Der Eingriff symbolisiert das Ende der Kindheit und den Eintritt ins Erwachsenenleben. Viele Mädchen werden kurz danach verheiratet, und die Eltern bekommen eine Aussteuer.

Zwei Mädchen sitzen am Eingang des Auffangzentrums in Narok. Die dreizehn Jahre alte Evelyn Siron fummelt mit einer Hand an ihrem rot-weiß getupften Rock. Ihren anderen Arm hat sie um die Schultern der vierzehnjährigen Roselyn Osoi gelegt. Sie wohnen seit einigen Tagen im Zentrum. „Ich merkte zu spät, dass ich beschnitten werden sollte“, erzählt Evelyn mit leiser Stimme. „Nach einer Woche, als die Schmerzen nicht mehr so schlimm waren, erzählte ich meinem Vater, dass ich wieder in die Schule zurückwollte. Er drohte, mich umzubringen und innerhalb von ein paar Wochen hat er mich vermählt.“

Dem vierzig Jahre alten Bräutigam von Evelyn gelang es aber nicht, seine ehelichen Rechte wahrzunehmen, weil seine Frau jeden Tag versuchte, davonzulaufen. Am sechsten Tag ihrer Ehe gelang ihr die Flucht ins Auffangzentrum. „Ich will die Schule absolvieren, aber meine Eltern weigern sich, zu zahlen. Mein Ehemann will jetzt nämlich seine Kühe und Ziegen zurück, die er für mich gegeben hat. Zum Glück hat das Auffangzentrum versprochen, mein Schulgeld zu übernehmen.“ Als Evelyn ins Zentrum kam, traf sie Roselyn, die einen Tag vorher angekommen war. Auch sie war frisch beschnitten und vermählt worden. Die Erfahrung hat die beiden zu engen Freundinnen gemacht. Judy Keiwua hatte mehr Glück. Als die Vierzehnjährige hörte, dass ihre Eltern sie beschneiden lassen wollten, zog sie sofort weg. „Ich will nach meiner Ausbildung beim Radio oder Fernsehen arbeiten“, erklärt sie. „Informationen weiterzugeben, finde ich einen schönen Beruf. Informationen haben mir schließlich geholfen, eine Entscheidung zu treffen.“

Eigentlich ist es seit vorigem Jahr in Kenia verboten, Mädchen unter achtzehn zu beschneiden. Die lokalen Autoritäten in Maasailand unterstützen jetzt die Arbeit des Auffangzentrums. Samuel Lemeria ole Dikirr ist der traditionelle Chief von Narok. „Beinahe hundert Mädchen haben schon das Zentrum benutzt“, lobt er. „In größeren Dörfern und Städten nimmt die Zahl der Beschneidungen ab. Aber im Busch sind Eltern noch nicht so schlau.“

Auf Chief Samuels Bürotisch liegt eine blaue Decke, sonst nur ein Stempel und Stempelkissen. Der Chief ist Analphabet. Lächelnd erinnert er sich an einen Informationstag von Agnes Pareyio. „Ich hatte zwar gehört, wie schlecht Beschneidungen sind, aber erst, als Agnes alles mit dem Modell erklärte, verstand ich es richtig. Seitdem reise ich viel, um Kollegen in Maasailand davon zu überzeugen, mit dieser Tradition zu brechen.“

Das neue Denken macht Schule. Die Beschneidung von Mädchen wird von Frauen geleistet, die oft zugleich Hebammen sind. Immer mehr sind nun gegen das, was sie tun. Die zweiundvierzigjährige Noola Mala verweigerte sich bei der letzten Runde von Beschneidungen, die meistens in den Schulferien stattfinden. „Ich sagte, dass ich dringend auf Familienbesuch müsse. Ich kann nicht öffentlich sagen, dass ich gegen diese Tradition bin. Sonst kriege ich viele Probleme.“

Schon einige Zeit wollte sie mit ihrer Arbeit Schluss machen, aus Angst vor Aids. Sie beschnitt nur noch, wenn die Eltern für jedes Mädchen eine neue, unbenutzte Rasierklinge gaben. „Aber was mich wirklich überzeugt hat, waren meine zwei kleinen Töchter von fünf und sechs Jahren“, erzählt Noola Mala und freut sich: „Die drohen jetzt schon, wegzulaufen, wenn wir sie beschneiden würden. So jung und so schlau!“