Da ist noch Luft drin

von REINER METZGER

Kaum ein soziales Versorgungssystem in Deutschland, das von der aktuellen Reformwut ungeschoren bleibt. Merkwürdig nur, dass in der Grundsatzdebatte etwa um die Zukunft des Gesundheitswesens ein recht bekanntes Prinzip nie erwähnt wird: das Verursacherprinzip, anzuwenden auf die Arbeitgeber.

Gemäß der aktuellen Gesundheitsreform sollen Arbeitnehmer künftig Krankengeld, Zahnersatz, Brillen und manches andere alleine bezahlen. Die bisher zur Hälfte beteiligten Arbeitgeber sind fein raus – noch weiter als bisher schon. Denn das Verursacherprinzip wird hier bisher nur ungenügend angewandt. Vor allem bei den arbeitsbedingten Erkrankungen wird nur ein Bruchteil der tatsächlichen Kosten von der Industrie und dem Handwerk über ihre eigentlich zuständigen Berufsgenossenschaften bezahlt. Der Rest fällt den Krankenkassen zur Last.

Wie immer, wenn es in Deutschland um Vermögende, die Industrie und ihren Anteil am Gemeinwohl geht, sind verlässliche Zahlen Mangelware. So auch bei Krankheiten, die durch den Arbeitsplatz verursacht werden. Im Jahr 2000 erschien endlich eine erste Studie, und zwar der Betriebskrankenkassen (BKK) im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (www.baua.de).

Berufskrankheiten kaum anerkannt

Das BKK-Team Gesundheit in Essen rechnete darin die jährlichen Kosten für die durch körperliche Belastungen ausgelösten Erkrankungen in Deutschland auf 28 Milliarden Euro hoch. Psychologisch verursachte Krankheiten am Arbeitsplatz kosten noch einmal gut 24 Milliarden Euro. Das sind keine Peanuts, sondern jeweils in etwa der Betrag, der mit der aktuellen Gesundheitsreform bis 2007 bewegt werden soll – wenn sie überhaupt im geplanten Ausmaß durchsetzbar sein sollte. Auch in den gestrigen Konsensverhandlungen zwischen den Parteien wurde zwar ein Haufen bereits beschlossener Maßnahmen noch einmal zur Disposition gestellt – nicht dagegen das Ziel, das da lautet: mindestens 20 Milliarden aus dem Etat der gesetzlichen Kassen herauszuschneiden. Die könnte man woanders herholen.

Die insgesamt rund 52 Millionen Euro, sagt BKK-Projektleiter Christof Röttger, „sind Mindestanteile“. Denn die Studie erfasste nur die gängigsten Krankheiten, deren Behandlungskosten und den Arbeitsausfall, nicht aber die Ausgaben für die Rentenversicherung. Studien aus Skandinavien kommen auf einen Anteil der von den Betrieben selbst verursachten Ausfalltage von einem Viertel bis einem Fünftel der gesamten Arbeitsunfähigkeitstage.

Vorsorge in den Betrieben und Gefahrstoffvermeidung wären also auf jeden Fall lohnender als die Maßnahmen in der avisierten Gesundheitsreform, meint auch Klaus Pickshaus, Referatsleiter Arbeitsschutz bei der IG Metall. Zur falschen Schwerpunktsetzung kommt laut Pickshaus hinzu: Nur 24 Prozent der angezeigten Verdachtsfälle auf Berufskrankheit werden anerkannt, nur etwa sieben Prozent der Betroffenen erhalten eine Rente. „Die Ermittlung der auf die nachgelagerten Sozialversicherungssysteme verschobenen Kosten arbeitsbedingter Erkrankungen“, so Pickhaus, „ist von hoher sozialpolitischer Brisanz“. Übersetzt aus dem Gewerkschaftsdeutsch heißt das: Auch nach fünf Jahren rot-grüner Regierung darf sich die Industrie weitgehend davor drücken, ihre Krankheitskosten zu bezahlen.

Die hohen Ablehnungsquoten kommen auch daher, dass nur etwa 60 Krankheiten als Berufskrankheiten anerkannt sind. Volkskrankheiten wie Rückenleiden oder Stresskrankheiten durch zunehmende Rationalisierung und ständige Umorganisation in den Betrieben sind nicht dabei: Weil sie die Industrie zu teuer kämen und weil bei solchen Krankheiten nie gerichtsfest nachzuweisen ist, dass die Krankheit auf eine bestimmte Tätigkeit zurückzuführen ist. Nur dann entschädigt die Berufsgenossenschaft als Industrieversicherer. Alle anderen Fälle müssen die Krankenkassen übernehmen.

Welche Summen dem Staat insgesamt entgehen, hat Peter Röder von der Initiative kritischer Umweltgeschädigter (www.krumme-sachen.de/wandner-1.htm) errechnet. Der 40-Jährige Franke ist schon seit vielen Jahren erwerbsunfähig, nachdem er in seiner Lehre ausgiebig und ungeschützt mit Holzschutzmitteln in Kontakt kam. Die gängige Praxis der Berufsgenossenschaften treibe die Kosten für die solidarfinanzierten Versicherungen in die Höhe, meint er. Es gehe dabei nicht nur um Arbeitsausfälle und Behandlungskosten. „Durch die Berufskrankheiten entstehen auch hohe Beitragsausfälle in der Rentenversicherung. Im Gegenzug müssen viel mehr Frührenten bezahlt werden“, so Röder. Auch die Beiträge der Kranken und ihrer Arbeitgeber für die Arbeitslosenversicherung fallen weg. „Alles in allem kommen etwa 75 Milliarden Euro jährlich zusammen“, schätzt Röder.

Das ist etwa das Dreifache der eben diskutierten Gesundheitsreform – ohne höhere Kosten für Arbeitnehmer. Damit ließe sich der Anteil der Lohnnebenkosten deutlich senken. Die liegen derzeit bei gut 40 Prozent. Laut dem Institut für Wirtschaftsforschung in Halle entsprechen Einsparungen von 7,5 Milliarden Euro etwa einem Prozentpunkt. Zum Vergleich: Mit der Gesundheitsreform soll der Anteil der Krankenversicherung an den Lohnnebenkosten von 14,3 auf 13 Prozent sinken.

Krankenkassen sind duldsam

Das Ganze ist natürlich kein Nullsummenspiel. Mehr zahlen müssten die Versicherungen derjenigen Betriebe, die viele Kranke produzieren – also deren Berufsgenossenschaften (BG). Ihr Hauptverband HVBG meldete im Juli betrübt, der durchschnittliche Beitragssatz aller Branchen und Gefahrenklassen im vergangenen Jahr sei von 1,31 auf 1,33 Prozent der Lohnsumme gestiegen – das erste Mal seit 1995. Die insgesamt drei Millionen Unternehmen in den Berufsgenossenschaften brachten im Jahr 2002 knapp neun Milliarden Euro auf, also etwa 3.000 Euro pro Betrieb und Jahr.

Da scheint noch Luft drin. Doch laut Andreas Baader, Sprecher der Berufsgenossenschaftszentrale in Sankt Augustin, ist nicht mit einer wesentlichen Erhöhung der Beiträge zu rechnen. „Die Rechtslage ist, wie sie ist“ – will heißen, vor Gericht werden die Chancen der klagenden Kranken in den meisten Fällen gering bleiben. Im Gegenteil: „Derzeit kommt der Druck eher von der anderen Seite“, meint Baader. Denn die Industrie fordert, weniger Berufskrankheiten anzuerkennen oder etwa Unfälle auf dem Arbeitsweg nicht mehr zahlen zu müssen.

Was Experten schon bei der heutigen, für krankmachende Arbeitsverhältnisse günstigen Gesetzes- und Rechtslage staunen lässt, ist die Duldsamkeit der Krankenkassen. Sie tragen die ihnen aufgebürdeten Kosten, ohne sich wirklich zu wehren. Sie haben keine Übersicht über die Kosten und die Zahl der Fälle, die sie eigentlich an die Berufsgenossenschaften abgeben müssten. So wurde zum Beispiel die Innungskrankenkasse Nordrhein, als sie die Krebsfälle ihrer Versicherten überprüfte, zum Vorreiter der Branche. Gut 320 davon haben die Berufsgenossenschaften im Nachhinein auf Betreiben der Krankenkasse doch noch als arbeitsbedingt anerkannt und pro Krebserkranktem im Schnitt 20.600 Euro erstattet.

Laut Wissen der IKK Nordrhein war diese Kostenprüfung bundesweit einmalig. Dabei könnten sich die pleitebedrohten Kassen hochgerechnet auf die 38 Millionen Versicherten in Deutschland auf diese Weise über 300 Millionen Euro pro Jahr von den Berufsgenossenschaften holen – und das nur für den begrenzten Bereich der Krebserkrankungen. Wenn sich selbst unmittelbar geschädigte Körperschaften wie die Krankenkassen nicht an die Betriebe wenden und auch politisch keinen Druck machen, weshalb sollte sich bei der Haftung der Industrie etwas ändern?

Schon jetzt bringt in Betrieben ein in die Vorsorge investierter Euro 2,5 bis 4,9 Euro wieder ein, melden die Betriebskrankenkassen. Bei einer vermehrten Anwendung des Verursacherprinzips würde sich das Verhältnis noch verstärken. Doch machen sich Vorsorgeausgaben in den Bilanzen kurzfristig erst einmal negativ bemerkbar. Und selbst bis eine Katastrophe wie das von der Industrie verschleppte Asbestverbot mit derzeit 1.000 Toten jährlich allein in Deutschland die Betriebe finanziell einholt, sind die schuldigen Manager längst bei der nächsten Firma oder im Ruhestand.

Industrie vor Gesetzgeber sicher

Ohne Druck des Gesetzgebers geht hier also nichts, da sind sich die Experten einig. Bisher fehlt es selbst an scheinbar Elementarem, wie etwa die Münchnerin Christel Brem erkennen musste. Sie ist beim Verband berufsbedingt Erkrankter (www.abekra.de) aktiv und durch Textilgifte berufsunfähig geworden. Brem hat eine eindrucksvolle Reihe von Prozessen gegen Medizingutachter und den Staat gewonnen – nur nicht ihre Prozesse auf Schadenersatz. Kein Wunder: Die Gutachter für die zuständigen Sozialgerichte sind nahezu alle von der Industrie gesponsert. „Die Berufsgenossenschaften müssen noch nicht einmal offen legen, ob die in den Gerichtsverfahren bestellten Gutachter in einem festen Vertragsverhältnis mit ihnen stehen“, moniert Brem.

Auch ist keinerlei Strafe vorgesehen, wenn in Zweifelsfällen von der allein zuständigen Berufsgenossenschaft Schadstoffe am Arbeitsplatz gar nicht oder in grob verfälschender Form gemessen werden – der Arbeitnehmer selbst darf nicht einmal messen lassen. Das wäre einfach zu ändern, doch im Bundessozialministerium sieht man alles in bester Ordnung: Nach der festen Überzeugung der Bundesregierung, erklärte das Ministerium kürzlich, haben sich „Organisation, Leistungen und Finanzierung der Gesetzlichen Unfallversicherung bewährt“. Es handle sich „um ein effektives und leistungsstarkes System zur Prävention, Rehabilitation und Entschädigung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten“.

Einen politischen Willen, die Arbeitgeber mehr als bisher an den Kosten der Gesundheit zu beteiligen, gibt es schlichtweg nicht.