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Neun lange Monate hat sie getagt, die Rürup-Kommission. Nun ist es an der rot-grünen Regierung, deren Vorschläge in haltbare Reformen umzumünzen

von ULRIKE WINKELMANN

Die Ministerin umschiffte das Wort „Wahrheit“. In Ulla Schmidts Redemanuskript stand: „Wir wollen den Menschen die Wahrheit sagen.“ In der Dankesrede, die Schmidt gestern an Rürup-Kommission und Öffentlichkeit richtete, wurde daraus: „Wir wollen den Menschen Auskunft geben, so gut wir es können.“ Im voll besetzten Festsaal des Sozialministeriums, wo die 26-köpfige Kommission, Politik und Presse die halbwegs friedliche Beendigung der Kommissionsarbeit feierten, war nicht zu entscheiden, ob Schmidts geänderte Wortwahl Ausdruck einer neuen Bescheidenheit oder eines neuen Zynismus war.

Brauchen wird sie jedenfalls beides: Denn mit dem 278-seitigen Werk, das der Kommissionsvorsitzende Bert Rürup gestern der Ministerin übergab, ist auch die Verantwortung für Renten-, Pflege- und Gesundheitsreform wieder in ihren Händen. Das neunmonatige Kommissions-Hickhack um die Sicherung der Sozialsysteme in der alternden Gesellschaft hatte der Regierung immerhin eine Atempause verschafft, um eine bis 2007 kalkulierte Schrumpfkur für das Gesundheitswesen mit der Opposition zu verhandeln.

Doch was jetzt kommt, sind Diskussionen über Renten-, Pflege- und Gesundheitsreformen, die bis 2030 und 2040 halten sollen. Und dazu liefert der Rürup-Bericht Thesen, Zahlen, Fakten. Zu Beginn der Woche hatte Kanzler Gerhard Schröder zwar gemeint, der Bericht sei „nicht die Bibel“. Hierzu klärte Rürup gestern auf, man habe „keine Bibel, sondern ein Handbuch für Sozialreformen schreiben“ wollen.

Und diesem Handbuch wird die Regierung in großen Teilen folgen müssen. Zum derzeit heikelsten Punkt, der Rente, erklärte die Ministerin gestern: „Was nicht erwirtschaftet wird, können wir auch nicht als Rente weitergeben.“ Solange also die Wirtschaftsdaten mies sind und die Arbeitslosigkeit hoch ist, müssen die heutigen Rentner mit langsamer steigenden Bezügen rechnen – „so wie auch die jüngere Generation seit Jahren keinen Einkommenszuwachs mehr hat“, sagte Schmidt.

Der Gesetzesvorschlag zur Rentenreform, den Schmidt „im Herbst“ vorlegen will, dürfte sich also an dem Rürup’schen Dreiklang orientieren: Nullrunde für Rentner im Jahr 2004, Ausrichtung der Rentenhöhe an der Zahl der Erwerbstätigen – und die Rente mit 67 ab 2035. Bittere Wahrheiten sind das vor allem für die heute 30-Jährigen, die jetzt viel einzahlen, insgesamt länger arbeiten und trotzdem privat vorsorgen müssen.

Für eine derartige Rentenreform braucht die Regierung die Union, und die schlug gestern schon einmal ein paar Pflöcke ein. Einen „Rentenkonsens“ werde es nur geben, wenn Kindererziehung stärker angerechnet werde, sagte CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer. Verhandlungen wolle man aufnehmen, wenn Schmidt ihr Gesetz vorlegt habe. Bis dahin soll auch die von der Union als Anti-Rürup aufgezogene „Herzog-Kommission“ fertig sein.

Noch so eine anstrengende Reform wird sich die Regierung bei der Gesundheit sparen wollen. So kommt es ihr entgegen, dass sich die Kommission nicht auf „Bürgerversicherung“ (die gesetzliche Krankenversicherung auch für Reiche und Beamte) oder „Kopfpauschale“ (die Einheitsprämie für alle) einigen konnte. Auch die Grünen machen in dieser Debatte nicht mehr allzu viel Dampf: Man werde in dieser Legislatur eine „Grundsatzentscheidung“ herbeiführen, sagte die grüne Sozialexpertin Biggi Bender gestern, aber das Wort „Gesetz“ kam ihr nicht über die Lippen.

Größte Chancen auf baldige Umsetzung haben die Vorschläge zur Pflege. Über die Pflegeversicherung, jüngste und mit 1,7 Beitragsprozenten „kleinste“ der Sozialversicherungen, hat die Kommission in Ruhe diskutieren können, und auch in der Öffentlichkeit wird über Pflege mit wenig Hysterie debattiert. Möglich ist also, dass ein Gesetzentwurf dazu im Herbst weitgehend den Rürup-Vorschlägen entspricht und ohne viel Aufhebens verabschiedet werden kann – wenn die Union sich nicht quer legt.

Während die Pflege gart und die Gesundheit auf Eis landet, wird die Rente also noch höher kochen als bisher. Rürup meint, um das „reale“ Rentenalter von derzeit 60 anzuheben, müsse man das gesetzliche Eintrittsalter auf 67 anheben. Union und SPD wollen lieber ohne die kritische „67“ diskutieren. Der DGB ist gegen Rürups Nachhaltigkeitsformel und die „67“, im Übrigen gebe es „gute Gründe für die Rente mit 60“, sagte DGB-Vize-Chefin Ursula Engelen-Kefer gestern. Und fügte hinzu: „Die Wahrheit liegt immer irgendwo dazwischen.“