Faction-TV

Gestern war Eröffnung der Funkausstellung in Berlin. Höchste Zeit, die neuen Formen des Fernsehens auseinander zu nehmen. Eine Programmgeschichte

von KLAUDIA BRUNST

Eigentlich hätte nicht Alexander Klaws, sondern Daniel Lopes der erste Sieger der RTL-Casting-Show „DSDS – Deutschland sucht den Superstar“ werden sollen. Seit den Vorausscheidungen im November 2002 hatte sich Lopes mit einer Coverversion von Enrique Iglesias’ „Hero“ den schwärmenden Teenies als Latin Lover empfohlen. Dann aber kam der 12. Januar 2002. Der Tag, an dem die RTL-Zuschauer (Einschaltquote: 9,69 Millionen) ausgerechnet ihren „Hero“ aus dem Wettbewerb wählten. Er hatte Textunsicherheit gezeigt. Sofort kursierten drei höchst unterschiedliche Erklärungen für sein Scheitern. Die professionelle Begründung lieferte Daniels Mentor Dieter Bohlen: Mit seinem relativ unbekannten Musicalsong habe sein Schützling den falschen Titel gewählt. Die Bild-Zeitung breitete eine romantische Entschuldigung aus: Lopes habe ein Verhältnis mit seiner „DSDS“-Konkurrentin Juliette Schoppmann. Als sich seine Freundin für einen Besuch ankündigte, sei es zum Streit gekommen. „Ich war so durch den Wind“, erklärte Lopes. „Das war der Grund, warum ich meinen Text vergessen habe.“

Freilich gab es für das Aus des Spitzenreiters noch einen dritten Grund. In den Tagen zuvor war Lopes negativ in die Schlagzeilen geraten: Wie RTL bestätigten musste, hatte er zwei Jahre zuvor bereits eine Single aufgenommen. Produktionsfirma: BMG-Entertainment, Mitveranstalter von „DSDS“. Auch wenn Jurymitglied und BMG-Chef Thomas Stein nun immer wieder betonte, es existiere derzeit kein gültiger Plattenvertrag mit Lopes, konnte Daniel nach dieser Enthüllung als unentdecktes „Superstar“-Talent nicht mehr die Idealbesetzung sein. Beweisbar ist so eine Manipulation nicht. Aber für die Fans und Kritiker von „DSDS“ war es letztlich auch ziemlich unerheblich, welche der drei Geschichten der Wahrheit entspricht. Das neue Reality-Fernsehen hat sich durch Formate wie „DSDS“ eines entscheidenden Problems entledigt: Niemand regt sich mehr auf, wenn sich die Show um der Show willen von der Wirklichkeit verabschiedet.

Die öffentliche Gleichgültigkeit gegen mögliche Fälschung einer TV-Inszenierung ist relativ neu. Sie markiert das Ende einer Jahre währenden Auseinandersetzung über den Umgang mit Wirklichkeit bei Reality-Formaten. Noch 1999, als der „Big Brother“-Star Zlatko überraschend aus dem Container gewählt wurde, war die Aufregung groß. Dass der „Big Brother“-Produzent Endemol für den unerwartet ausgeschiedenen Favoriten verblüffend rasch eine eigene Sendung auf den Markt brachte, galt als Indiz für eine verborgene Vermarktungsstrategie. Die Vorhaltungen im Fall Lopes wiegen im Vergleich zu Zlatkos Aus weit schwerer. Denn mit dem aufwändigen Casting von zehntausend talentierten No Names bedient „DSDS“ die klassische Zuschauersehnsucht, man könne für einen Moment durch den „Zauberspiegel Fernsehen“ aus der Anonymität des Alltags heraus in die Welt des Glamours eintreten. Wenn nun der auserkorene Lopes in Wahrheit gar kein Unbekannter mehr war, ist diese Tatsache durchaus dazu geeignet, die mediale „Aschenputtel“-Fantasie zu zerstören.

Aber offenbar gibt es gar nichts mehr zu entzaubern. Die Zuschauer haben inzwischen akzeptiert, dass das Reality-Fernsehen seine eigene Realität inszeniert und dabei immer häufiger nur noch assoziativ auf die Wirklichkeit Bezug nimmt.

Keine zehn Jahre ist es her, dass das Fernsehen die „Real People“ für sich entdeckte. Bis dahin war der Platz der Fernsehzuschauer vor dem Bildschirm, nicht vor der Kamera. Als Ende der Achtzigerjahre die Dauerwerbesendungen „Glücksrad“ und „Der Preis ist heiß“ beginnen, ihre Mitspieler aus dem Präsenzpublikum zu rekrutieren, müssen die Kandidaten plötzlich eine mediale Aufgabe erfüllen: Sie sollten sympathisch und ehrlich wirken. Kurz: wie jemand, dem man ein Auto gönnt. Mit dem Sendestart von „Hans Meiser“ fangen 1992 die sympathischen, ehrlich wirkenden Leute erstmals an, ihr eigenes Spiel zu spielen. Sie breiten auf offener Bühne ihre Nachbarschaftsstreitigkeiten und ihre Schicksalsschläge aus. Die Pioniere des Talk-TV Hans Meiser, Ilona Christen, Jürgen Fliege, Margarethe Schreinemakers verstehen ihren Sendeauftrag als „praktische Lebenshilfe“ (Fliege). Deshalb laden sie Betroffene und Experten in ihre Shows ein. Der Gedanke, dass sich unter ihre Gäste auch Falschspieler mischen könnten, liegt ihnen fern. Der Auftritt eines alltagsnahen Akteurs ist eng an seine emotionale Aufrichtigkeit geknüpft.

Obwohl das Talk-Fernsehen sich rasch vervielfältigt und bald in rasantem Tempo Themen und Schicksale verschleißt – 1996 sollen es bereits dreißigtausend Gäste sein –, lässt sich der Authentizitätseindruck relativ lange aufrechterhalten. Erst Ende der Neunziger kommt die Vermutung auf, dass längst nicht jedes Drama, das da am Nachmittag verhandelt wird, ein echtes Schicksal ist. Bei den neuen „Konfro-Talkern“ Arabella Kiesbauer und Bärbel Schäfer werden immer häufiger Streithähne und Hassfeinde in der laufenden Sendung überraschend zusammengebracht. Der emotionale Konflikt wird jetzt nicht mehr nur beschrieben, sondern extra für die Kamera neu entfacht. Zudem haben inzwischen alle Talkshows spezielle Castingagenturen eingeschaltet, die den Fluss interessanter Gäste nie versiegen lassen. Ein Einfallstor für Falschspieler. Von ihren Lügenauftritten berichteten sie stolz in anderen Fernsehshows, zum Beispiel in Stephan Raabs „TV Total“, wo im Frühjahr 1999 ein junger Mann nachweisen kann, in fünfzehn verschiedenen Talkshows mit diversen Gebrechen, Ticks oder Leidenschaften Gehör gefunden zu haben. In diesem Jahr droht Arabella Kiesbauer funkelnd in die Kamera, künftig werde ihre Redaktion alle „Talkshow-Hopper“ verklagen.

Wozu dieses Pochen auf die „Echtheit“ der Situation? Eine Studie zum Talkshow-Konsum Jugendlicher belegt im gleichen Jahr, dass die GZSZ-Generation von ihrer Lieblingssendung vor allem eine emotional glaubhaft inszenierte, eben „gefühlsechte“ Performance erwarten. Wo „echt“ und „unecht“ als „authentisch“ und „unauthentisch“ definiert wird, kann jedermann mit Halbwahrheiten oder gar komplett erfundenen Gleichnissen vor die TV-Gemeinde treten, ohne sich dabei der Lüge schuldig zu machen. Vorausgesetzt natürlich, seine Darstellung ist glaubhaft „gefühlsecht“.

Eine Verlagerung vom „Echten“ ins „Authentische“ wird zum Jahrtausendwechsel auch im Dokumentarfilmgenre bestimmend. Noch viel unverblümter als in den Konfro-Talks stellen die neuen Doku-Soap-Formate ihre Wirklichkeit mit den Mitteln des fiktionalen Fernsehens selbst her: die Helden aus der „Fahrschule“ (Sat.1) oder des Diätdramas „Abnehmen in Essen“ (WDR) werden nach Telegenitätskriterien zusammengestellt. Die Akteure nennen sich jetzt „Darsteller“. Denn was sie tun, tun sie nicht mehr allein aus eigenem Antrieb, sondern auch auf Geheiß ihrer Regisseure, die ihre Storys mit einem Drehbuch entwickeln. Eine ähnlich künstlich hergestellte „gefühlsechte“ Inszenierung bietet 1999 auch „Big Brother“. Die Vorbereitung des „Real Life“-Formats wird von einer heftigen medienpolitischen Debatte begleitet, in der – vielleicht ein letztes Mal – öffentlich erörtert wird, wie das Fernsehen mit den Gefühlen und Schamgrenzen seiner nichtprominenten Helden umgehen darf. Es ist dann vor allem die Macht des Faktischen, die das medienkritische Lamento verstummen lässt. Mit ihrem Wandel von No Name zu Kultstars haben die „Big Brother“-Bewohner ihren Opferstatus verloren. Nun werden sie als gewiefte Selbstdarsteller wahrgenommen. Damit wird den „Real People“ öffentlich erstmals die Macht zugebilligt, im Rahmen einer TV-Inszenierung als souveräne Medienarbeiter ihre persönlichen Ziele (Popularität, Karriere, Geldgewinn) aktiv zu verfolgen.

In der Folge von „Big Brother“ drängt das neue Inszenierungsschema lustvoll nach Anwendung. Zahllose Kandidaten werden zur Jahrtausendwende mit Kamerateams auf einsame Inseln, in die Ferien oder zum Abnehmen auf eine Wellness-Farm geschickt. Der kurze, aber heftige Boom von Real-Life-Formaten endet bereits im Januar 2001 mit einem Overkill: Die neuen Kandidaten in den Containern haben nach zwei „Big Brother“-Staffeln selbst genug Anschauung, um zu wissen, wie man sich vor der Kamera „authentisch“ verhält. Sie sind Darsteller ihrer selbst geworden. Die Quoten aller Formate stürzen ins Bodenlose.

Im Windschatten dieser Ereignisse vollzieht sich am Talknachmittag eine stille Revolution: Das Fernsehen stellt fest, dass es für seine Real-People-Storys gar keine echten Menschen braucht. Das alltagsnahe „gefühlsechte“ Fernsehen lässt sich viel effektiver und glaubhafter mit erfundenen Geschichten und Laiendarstellern herstellen. Ein Jahr nach dem Sendestart von „Richterin Barbara Salesch“ lassen die Einschaltquoten immer noch zu wünschen übrig. Mit dem Slogan „Echte Fälle, echte Kläger, echte Beklagte“ hatte Sat.1 1999 für das neue Format geworben, in dem eine beurlaubte Richterin die realen Streitigkeiten eines Schiedsgerichtsverfahrens mit einem rechtsgültigen Urteil beendet.

Aber der Plan, abseits der Daily Talks mit dem echten Leben gute Fernsehunterhaltung zu machen, ist gescheitert. Zu kompliziert sind die echten Bagatellfälle, um das zerstreute Daytime-Publikum fesseln zu können. Die Produktionsfirma filmpool entscheidet sich für einen radikalen Relaunch. Der Echtheitsanspruch der Gerichtsshow wird fallen gelassen, ab Oktober 2000 werden die Gerichtsfälle von der Redaktion recherchiert und von Laiendarstellern gespielt. Weil die Richterin und die Grundlage ihrer Urteile, das BGB, immer noch „echt“ sind, wirkt das alte Salesch-Mantra „Echte Fälle, echte Kläger, echte Beklagte“ noch eine Weile nach. Das doppelbödige Spiel mit der „Reality“ ist der Schlüssel zum Erfolg: Bereits im nächsten Frühjahr hat „Richterin Barbara Salesch“ den Talkshow-Konkurrentinnen die Marktführerschaft der Kernzielgruppe abgenommen. Bald ist der ganze TV-Nachmittag umstruktuiert. Bei Sat.1 reicht das „Reality“-Programm von der Psychoshow „Zwei bei Kallwass“ bis zu den Reality-Krimis „Lenßen & Partner“ und „Niedrig & Kuhnt“, wo ebenfalls Laien Szenen aus ihrem Berufsalltag nachstellen und man mit dem Einsatz angeblich versteckter Minikameras an die TV-Ästhetik des investigativen Boulevardmagazins „Akte 03“ anknüpft.

Solche Vermischung von Realität und Fiktion kriegt nun einen Namen – „Faction“ – und zieht auch außerhalb des Fernsehens Kreise. Im Sommer enthüllt eine aufmerksame Spiegel-Redakteurin, dass der Sachbuchbestseller „Mitten in Afrika“ von der Autorin Ulla Ackermann in Teilen frei erfunden ist. Ende Juni muss der Verlag Hoffmann und Campe das Buch vom Markt nehmen. Und zugeben, dass sich die Story als Belletristik kaum so gut verkauft hätte. Niemand konnte Mitte der Neunzigerjahre, auf dem Höhepunkt der kulturkritischen Mediendebatte um TV-Fakes, Medienkompetenz und Realitätsverlust, ahnen, dass nur fünf Jahre später die Nachfolgeformate der Daily Talks mit einer offensiven Fiktionalisierung ihrer Stoffe und dem Einsatz von Laiendarstellern mehr Erfolg haben würden als mit der Inszenierung des wahren Lebens. Mit dem Laieneinsatz bei „Richterin Barbara Salesch“ und ihren vielen Follow-ups ist eine Epochenschwelle erreicht. Der große Publikumszuspruch für diese Shows zeigt nun endlich deutlich, was in den medienpolitischen Debatten der Jahre zuvor ständig abgestritten wurde: Dass sich das Real-Life-Publikum gar nicht für das „echte Leben“ interessiert, sondern nur für die darin so authentisch vorgetragenen Affekte. Die Enttäuschung von Daniel Lopes zum Beispiel. Und die Freude von Alexander Klaws. Die waren doch echt, oder?

KLAUDIA BRUNST, Jahrgang 1964, beschäftigt sich seit Jahren mit Reality-TV. Gerade ist ihr neues Buch erschienen: „Leben und leben lassen. Die Realität im Unterhaltungsfernsehen“ (UVK Verlag, Konstanz, 271 Seiten, 24 Euro)