„Ich bin nicht liquidiert worden“

Interview THOMAS LEIF

taz: Sie haben kürzlich gesagt, die SPD sei im Grunde kaputt …

Matthias Machnig: Nein, ich habe gesagt, die SPD steht vor einem gewaltigen Problem. Es gibt einen dramatischen Mitgliederverlust. Die SPD hat ein demografisches Problem, das wahrscheinlich größer ist als das der gesetzlichen Rentenversicherung, und es hat eine Entkoppelung der SPD-Mitgliederstruktur von der eigentlichen Wählerstruktur stattgefunden. Die Sozialstruktur der Mitglieder ist geprägt durch Leute, die in den 60er-, 70er-Jahren zur SPD gekommen sind. Die soziale Struktur in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist heute eine völlig andere.

Was sind die Konsequenzen?

Die Konsequenzen heißen für mich Rückbesinnung auf die Partei, denn die ist für mich kein notwendiges Übel im Regierungshandeln. Die Partei muss wieder eine eigenständige programmatische und organisationspolitische Dimension werden.

Aber das will Gerhard Schröder doch nicht?

Das weiß ich nicht. Es geht um die mittelfristige Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie und um ihre Substanz.

Wie sehen Sie die personelle Situation der SPD?

Die SPD hat nur noch wenige Führungsreserven. Eine der wichtigsten Aufgaben der Zukunft ist es, diese Führungsreserven sehr, sehr schnell aufzubauen. Und das kann man meist besser machen in Regierungsverantwortung als in der Opposition. Denn es geht bei diesem Punkt um die Zukunftsfähigkeit der eigenen Partei.

Was halten Sie vom Nachwuchs um die Zeitschrift Berliner Republik und das „Netzwerk“ in der SPD-Fraktion?

Zunächst einmal ist es gut, dass es solche Zusammenschlüsse gibt. Ich finde es auch richtig, dass sich eine bestimmte Generation organisiert, nur eine Generation kann sich nicht nur über Alter definieren, sie muss sich auch über politische Inhalte definieren. Ich glaube, da hat man noch einen Weg vor sich.

Vielleicht ist das Thema einfach „Karriere“?

Das will ich zunächst einmal nicht unterstellen. Ich sehe da Suchprozesse und Unsicherheiten, dieses Projekt klar zu definieren. Aber das ist die Aufgabe, nur so kann aus einer Generation auch politisches Führungspersonal werden. Der Aufstieg in Parteien ist auch davon abhängig, ob man Konflikte durchgestanden hat, ob man sie bewältigt hat, ob man auch Mehrheiten dafür erringen konnte. Man kommt über den Schlafwagen in keine Ämter.

Zu einem anderen Flügel, der Parlamentarischen Linken: Wie sehen Sie deren Situation?

Wir haben vom programmatischen Profil seit Jahren weder eine politische Rechte noch eine politische Linke. Das sind aus meiner Sicht Traditionszusammenhänge, die sich nur bei Personalentscheidungen noch koordinieren. Ich kenne seit zehn Jahren kein programmatisches Dokument einer parlamentarischen Linken oder Rechten von Gewicht. Das war in den 70ern noch anders.

Einer der zentralen Vorwürfe lautet: Es gibt kein strategisches Zentrum zwischen Partei, Fraktion und Regierung, in dem alle Fäden zusammenlaufen. Stimmt das?

Ja.

Woran liegt das?

Ich glaube, das hat etwas mit dem System Schröder zu tun. Gerhard Schröder ist seine eigene strategische Reserve. Er ist derjenige, der vor allem mit einsamen Entscheidungen und vor allem, wenn Druck aufgebaut ist, in der Lage ist, konsequent zu handeln. Aber es gibt keine wirklich vorausschauende, keine antizipierende Politikplanung, weil man daran zweifelt, in dem schnelllebigen Politikgeschäft, solche Linien überhaupt aufbauen zu können.

Welche Chancen vergibt Schröder mit dem Verzicht auf ein strategisches Zentrum – und welche Defizite entstehen daraus?

Über Jahre ist Gerhard Schröder nun Vorsitzender der SPD, und er hat immer noch kein wirklich entwickeltes Netzwerk in die Partei aufgebaut. Ein Netzwerk, das ihn in schwierigen Zeiten auch wirklich unterstützt. Schröder hat immer davon gelebt, dass er ein Kanzler war mit guten persönlichen Meinungsumfragen und jemand, der der SPD gezeigt hat, dass er gewinnen kann. Das hat Autorität und einen bestimmten Führungsstil aufgebaut. Jetzt in der Phase, wo die Rahmenbedingungen schwieriger sind, hat dieser Führungsstil Defizite zur Folge.

Das heißt: Gerhard Schröder ist auf Grund seines Politikstils und seiner persönlichen Strukturen nicht beratungsfähig?

Das würde ich so nicht sagen. Die Frage lautet, unter welchen Bedingungen ist die Regierungspolitik bereit, Dinge zu realisieren und umzusetzen. Es gibt eine Erfahrung: Erst als die Tatsachen putschten, war die Regierung bereit, bestimmte Dinge zu tun. Man muss sich dem Problem stellen, ansonsten besteht die Gefahr, dass man Mehrheiten und Akzeptanz verliert. Damit erodiert die eigene politische Basis, die Motivation der eigenen Partei und auch die Bereitschaft von Menschen, sich für sozialdemokratische Politik einzusetzen.

Aber Organisationsfragen wurden auch im Bundestagswahlkampf vernachlässigt. Vier Monate vor der Wahl haben Sie zu verstehen gegeben, dass es ein Abspracheproblem gibt zwischen Partei, Fraktion und Kanzleramt: Da hat man nicht ausreichend kommuniziert.

Also, es gab schon eine Kommunikation, aber ob es eine zielführende Kommunikation war, ist eine ganz andere Frage.

War sie zielführend?

Also, ich glaube, man hätte Dinge optimieren können, besser machen können. Wenn ein solches Dreieck zwischen Partei, Fraktion und Regierung zu organisieren ist, spielen Machtfragen, Prestigefragen eine Rolle, und da gab es ein klares Ranking.

Die andere Seite, das Kanzleramt, hat aus Ihren Vorlagen nichts gemacht?

Das würde ich nicht sagen. Da gibt es unterschiedliche Blickwinkel. Das Kanzleramt war sehr stark im operativen Geschäft, die müssen schauen, dass Regierungshandeln richtig koordiniert wird. Unsere Aufgabe war es, in Kommunikation zu denken. Beides war – in der Art und Weise zu denken und zu planen – nicht immer kompatibel.

Was waren die wesentlichen Fehler im Wahlkampf, wie sieht Ihre Bilanz aus?

Wir besaßen 2001 die Meinungsführerschaft und wir hatten es mit einer schwachen und gespaltenen Opposition zu tun. Aber wir haben es nicht geschafft auch 2002 die Meinungsführerschaft in wichtigen politischen Fragen zu sichern. Das war das Problem, kein Problem primär der Partei, sondern vor allem das Problem einer null erkennbaren Regierungsagenda.

Woran lag das?

Das war zum einen die Auffassung, das Thema 11. September und seine Folgen würde lange tragen. Zweitens traute man sich nicht mehr zu. Vor dem Hintergrund von Zerwürfnissen, die es zwischen SPD und Gewerkschaftlern gab, über schwierige Themen, wie das Gesundheitssystem, den Umbau des Sozialstaats oder das Bildungssystem war niemand bereit wirklich auch anzugreifen. Die Themen wurden bestenfalls für die öffentliche Kommunikation neutralisiert. Und darüber entstand der Eindruck, dass das Land nicht mehr geführt wird. Unsere Daten haben eines eindeutig belegt: Es gab in der Wählerschaft den Eindruck, Schröder wolle die Wahl überhaupt nicht mehr gewinnen. Er vermittelte nicht mehr den Eindruck, dass er die Führungspersönlichkeit ist, die sich auch für bestimmte Reformvorhaben einsetzt.

Was waren die größten Fehler, Ihre eigenen Fehler?

Mein größter eigener Fehler war, nicht darauf insistiert zu haben, dass es klare Koordinationsstrukturen gibt, dass es klare mittelfristig verabredete Linien gibt. Heute, genau wie vor sechs Monaten sage ich, die Kampa 2002 war vom Handwerklichen her besser als 1998. Aber sie hatte einen sehr viel schwierigeren Job unter sehr viel ungünstigeren Bedingungen zu erfüllen.

Erinnern Sie sich an andere Fehler?

Noch mal: Es gab schon Koordination, wir hatten auch ein paar Linien. Es gab aber auch Fehlkommunikation, wie der „Deutsche Weg“ zum Beispiel.

Wie steht es mit der Fehleinschätzung Herrn Stoiber zu rabiat in die rechte Ecke gestellt zu haben?

Ganz im Gegenteil. Ich finde das immer besser. Dadurch dass wir rechts positioniert haben, ist er in die Mitte gerückt. Und wo kann er gegen Schröder nicht gewinnen? In der Mitte, eindeutig.

Die Wahl ist gewonnen worden, entgegen allen Befürchtungen, und trotzdem sind Sie liquidiert worden.

Ich bin nicht liquidiert worden.

Kanzleramtschef Steinmeier wollte Sie nicht mehr im Amt, und andere fühlten sich von Ihrer öffentlichen Präsenz bedrängt.

Nein, ich habe im Juni 2002 eine für mich wichtige Entscheidung getroffen, dass ich aufhören will. Das ist mit Franz Müntefering und auch vor der Wahl mit Gerhard Schröder besprochen worden. Und dann habe ich einen neuen Lebensabschnitt begonnen.

Beschreiben Sie das Konfliktpotenzial, das Sie der SPD zugemutet haben.

Ich habe meine Vorstellung schon im Herbst 2001 klar gemacht, dass man ohne Reformagenda 2002 in eine Situation hineinläuft, in der der SPD keine Führungskompetenz mehr unterstellt wird. Wahlen werden genau über diesen Punkt, Führungs- und Zukunftskompetenz, gewonnen.

Das war Konfliktstoff genug?

Das reicht.

Die ausführlichere Fassung des Interviews erscheint in der Dokumentation zum 8. MainzerMedienDisput und kann unter www.mediendisput.de heruntergeladen werden