Abfall für alle

Wenn Füchse und Biber kommen: Cord Riechelmanns „Wilde Tiere in der Großstadt

Wer sich als Großstädter des Öfteren nachts herumtreibt, ist ihm vielleicht schon begegnet: dem Fuchs. Das rotfellige Tier mit dem langen buschigen Schwanz ist auf der Hut. Dennoch scheint es das unverhoffte Tête-à-tête inmitten der Stadt gleichgültiger hinzunehmen als der Mensch. Dem ist unbehaglich zumute. Mit einer Katze oder einer Ratte hätte er gerechnet. Aber ein Fuchs: Inbegriff des Schreckens. Wegen der Gefahr, Tollwut zu übertragen, wurde das Tier jahrelang gnadenlos gejagt.

„Der Fuchs in der Stadt war der Tod vor der Tür“, beschreibt Cord Riechelmann die einstige Fuchshysterie in seinem neuen Buch über die wilden Tiere in der Großstadt. Seine Begegnung fand übrigens nicht einmal nachts statt. Er traf den Fuchs zur Mittagszeit zwischen Obst- und Gemüseauslagen. „Ruhig wie jeder Stadthund geht er zwischen den Fußgängern entlang, blickt einigen direkt ins Gesicht und verschwindet schließlich, mit oder ohne Obst, in Richtung eines Parkplatzes neben einem Getränkemarkt in der Kurfürstenstraße, um dann dort unter den Bäumen die Abfälle zu inspizieren.“

Abfall für alle. Denn nicht nur Füchse haben den reich gedeckten Tisch der Zivilisation für sich entdeckt. Unter den Säugetieren erobern auch Waschbären, Biber, Steinmarder und vor allem Wildschweine, die vergangenes Jahr sogar den Berliner Alexanderplatz erreichten, zunehmend den städtischen Raum. Biologe Riechelmann gibt über den Einzug dieser „Großen“ erschöpfend Auskunft, erklärt ihre Lebensweise und bricht zumeist eine Lanze für deren Fortbestand in der Stadt. Allein beim Wildschwein kennt er keine Gnade. Die Allesfresser seien unberechenbar, eine Gefahr für Passanten und Straßenverkehr, begründet Riechelmann sein Halali für das Schwarzwild. Zudem kehren die Tiere immer wieder dorthin zurück, wo sie einmal Nahrung gefunden haben. Deshalb: „Wildschweine müssen, tauchen sie in der Stadt auf, erschossen werden.“ So auch im Fall der beiden armen Schweine am Alex, nachdem sie das Gelände einer Kita geentert hatten.

Andere tierische Invasoren haben da mehr Glück. Überrascht vernimmt der schlaflose Spaziergänger Riechelmann am Alexanderplatz den lauten Gesang einer Nachtigall. Dem polyphonen Singvogel (bis zu 200 verschiedene Strophen!) reichen augenscheinlich die wenigen, aber insektenreichen Laubbäume nahe des Platzes zum Überleben. Mit 1.500 Brutpaaren ist Berlin dicht mit Nachtigallen besiedelt, da müssen auch mal scheinbar weniger attraktive Reviere herhalten. Ausdauernd schmettert der Nachtigallenhahn sein Lied.

Doch nicht immer kann man sich trotz typischen Nachtigallengesangs des Interpreten sicher sein. Der Sprosser, ein naher Verwandter der Nachtigall, vermag nämlich deren Strophen zu imitieren. Laut Riechelmann schafft es der Sprossenhahn bisweilen gar, ein Nachtigallenweibchen herbeizusingen, um sich über vermeintliche Artschranken hinwegzusetzen und die Dame zur Paarung zu überreden. Auch andere Tiere kennen da keine Grenzen mehr. Der Kolbenenterich macht es mit der Tafelente, die Wechselkröte bespringt im blinden Begattungsdrang eine Kreuzkröte, oder die Nebelkrähe paart sich mit der Rabenkrähe. In der Großstadt ist offenbar alles möglich.

Nach seiner Tiergeschichtensammlung aus den Berliner Zoos, dem „Bestiarium“, ist Riechelmann dieses Mal die ganze Stadt abgeschritten, hat genau beobachtet und dabei selbst für das listige Treiben der Brautgeschenkspinne ein paar Zeilen übrig: Das Spinnenmännchen bietet seiner Auserwählten eine Fliege an, um sie gefügig zu machen. Während das Weibchen ihr Geschenk zu verzehren beginnt, kommt es zur rasanten Befruchtung. Nach dem Akt entreißt der Spinnenmann seiner Blitzpartnerin die Fliege wieder und krabbelt damit davon.

Genau das sind die bunten Details, die das Buch so lesenswert machen. Die wilden Tiere, keine Frage, sind im Kommen. Und eines fernen Tages wird man vielleicht wirklich einem weiteren „Großen“ über den Weg laufen: dem Wolf, der sich hierzulande wieder angesiedelt hat. Doch dazu schweigt sich Riechelmann in seinem Buch noch aus.

TIM BARTELS

Cord Riechelmann: „Wilde Tiere in derGroßstadt“, mit Audio-CD, Nicolai Verlag,Berlin 2004, 176 Seiten, 16,90 Euro